Liebe, lebenslänglich
will es sich nicht zu einfach machen. Sie kann sich einfühlen in ihren Sohn. Sie hat erfahren, dass einem das Leben ganz schwer werden kann. Mehrmals hat sie das erlebt, nach Davids Geburt fing es an. Ohne Freude und ohne Antrieb, so fühlte sie sich, auch wenn sie nach außen hin funktionierte und tat, was sie immer tat. Aber sie lag in einem Loch, und es schien sehr, sehr tief zu sein, weder Wärme noch Licht konnten durchdringen zu ihr, ihre Leere paarte sich mit Hoffnungslosigkeit. Irgendwann, nach vier bis sechs Monaten, war es vorbei. Nicht euphorisch fühlte sie sich jetzt, doch wie aufgeschlossen, mit einem neuen Zugang zur Welt. Es geht ihr gut.
Was bleibt, ist die Angst vor dem Loch. Nach Davids Tod war sie besonders groß. Doch bisher ist sie nicht zurückgefallen. Vielleicht, sagt sie, liegt es am Alter und den damit einhergehenden hormonellen Veränderungen. Vielleicht daran, dass sie jetzt gewappnet ist. Ihr kann nichts mehr passieren. Denn das Schlimmste ist bereits passiert. Sie ist gelassen und frei von Angst, sie kann jedes Unglück ertragen, sich mit jedem Schicksal versöhnen. Mit diesem Gefühl geht sie durchs Leben und manchmal mit Johanniskraut.
Sie kann verstehen, dass man tot sein möchte. Aber sie kann nicht verstehen, dass man tatsächlich den letzten Schritt tut. Diesen Akt der Gewalt gegen sich selbst, des Selbsthasses vielleicht. Das erschreckt sie und ist ihr fremd. Das passt nicht zu David, sagt sie. Es ist Teil ihrer Katastrophe, dass sie ihren Sohn in seiner letzten Handlung nicht erkennt. Dass sein Selbstmord ihr das Gefühl gibt, ihn vielleicht nie wirklich gekannt zu haben.
Pia Jaeggi hat gelesen, dass sich ein Mensch, der Suizid begeht, nie in einem normalen Zustand befindet. Selbst der bis ins Detail geplante Selbstmord entspringt einer akuten Krise, deren Auslöser beliebig sein kann. Eine schwarze Katze, eine schlechte Note, ein gleichgültiger Blick. Und natürlich hat sie sich gefragt, ob sie David ihre Anlage zur Depression vererbt hat. Sie bemerkte keine Anzeichen dafür. Pia Jaeggi schüttelt den Kopf. Davids Todesart bleibt ein Mysterium.
Sie will nicht vergessen, dass er gekämpft hat. Wie oft muss er sich ein »Trotzdem« und ein »Noch einmal« abgerungen haben. »Die Liebe zu all meinen Mitmenschen war immer viel zu groß für diesen Schritt«, schrieb er. Und dass er gedacht habe, er könne uns das nicht antun. Aber dass ein Kind sich nur aus Rücksicht auf seine Nächsten am Leben hält, kann keine Mutter wollen und kein Vater, sagt Pia Jaeggi.
David bemühte sich nach Kräften, seinem Unglück das größtmögliche Quantum Glück abzuringen. Gegen Ende gelang ihm das am besten beim Sport oder wenn er mit Freunden zusammen war. Er feierte bis in die frühen Morgenstunden: »Dies ist der Grund, warum ich immer fröhlich wirkte. Ich genoss einfach die Zeit, die ich noch hatte und mit euch verbringen durfte«, schrieb er seinen Freunden. Und seinen Eltern erklärte er: »Es waren die einzigen Momente, wo ich mich noch richtig lebendig fühlte und alles andere ein wenig vergessen konnte.«
Pia Jaeggi schließt den Ordner mit Davids Abschiedsbriefen. Sie und ihr Mann haben mehrere Ordner angelegt, in denen sie gesammelt, vervielfältigt und in eine Reihe gebracht haben, was David in ihrer Erinnerung auferstehen lässt. Diese Ordner bezeugen ihren Willen, den Gefühlen mit dem Mittel der Genauigkeit zu begegnen. Die Liste mit den Suchbegriffen, die David in seinen Computer eingab. Die Liste mit den Liedern, die er auf seinem iPod hörte. Die Worte der Seelsorgerin und der Freunde Davids an der Beerdigung. Alle Kondolenzbesuche, Name, Datum. Alle fünfhundert Kondolenzkarten, alphabetisch nach dem Absender eingereiht. Sie und ihr Mann lesen diese Karten immer wieder. Sie helfen gegen das Gefühl, allein gelassen zu sein. Und sie zeigen ihnen, dass David ein Mensch war, der jetzt, wo er nicht mehr ist, vielen fehlt.
Pia Jaeggi versteckt sich nicht. Von Anfang an wollte sie sich nicht verstecken. In Europa sterben jährlich mehr Menschen an Suizid als an Verkehrsunfällen, trotzdem ist es für viele Angehörige ein Tabu, darüber zu sprechen. Warum? Pia Jaeggi geht auf die Leute zu und zeigt ihnen, dass sie sich nicht scheut, von David zu reden. Denn so lebt er weiter. Nach diesen Gesprächen sieht sie wieder sein Strahlen vor sich. Sie sieht den sportlichen David, den hübschen und eitlen, der auf seinen Körper achtet. Sie sieht den David, der immer zu spät kommt,
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