Liebe, lebenslänglich
in dem ich aufgewachsen bin. In seinem Computer fanden sie Suchbegriffe wie »Tödliche Höhe«, »Zyankali«, »Zyankali kaufen«, »Polizei verständigen bei Selbstmord« und »Wen verständigen bei Selbstmord«.
Den Brief an seine besten Freunde schrieb David in zwei Anläufen, den ersten Teil bereits am 15. Februar 2010, also mehrere Monate bevor er sich endgültig fallen ließ, fünfzig Meter in die Tiefe. Eigentlich glaubte er sich damals schon bereit für diesen Schritt. Er begriff sich als »innerlich total am Ende«. Und suchte auf dieser nicht mehr zu unterbietenden Gemütslage eine neue Zuversicht zu bauen: »Ich setzte mir immer wieder neue Ziele, um dem Leben noch eine Chance zu geben.« Zum Beispiel noch das zweite Semester an der Fachhochschule beenden, noch an einem Jubla-Lager teilnehmen, und im August wollte er mit seinen besten Freunden noch nach Wien und Bratislava, eine Reise, die er für sie alle organisiert hatte.
Sie wusste von diesen Plänen und freute sich darüber. Sie sah darin seine Entschlossenheit, wieder an dieser Welt teilzunehmen. Diese Pläne erschienen ihr wie eine Garantie, dass ihr Sohn den 31. Oktober 2009 hinter sich gelassen hatte, den Tag, an dem sich seine erste große Liebe in nichts als seine Sehnsucht danach auflöste. Er schien für sechs Monate ganz in seinem Element angekommen zu sein, er war voller Tatendrang, fing an zu studieren, Systemtechnik, was sie als Eltern überraschte – David war nie gern zur Schule gegangen –, er lief Marathon, Jubla hier, Jubla dort, auch seine Freundin war in der Jubla aktiv. Danach stürzte er in einen Kummer, den sie mitbekam: »Gäll, dir geht es nicht gut?«, hatte sie ihn gefragt, und er hatte geantwortet: »Nein, wegen, du weißt schon.« Sehr gesprächig war er nicht gewesen. Sie redete mit ihrem Mann, der auch einmal eine herbe Enttäuschung in der Liebe erlebt hatte, und ihr Mann redete mit David, und sie hoffte auf die verstreichende Zeit, die Davids Gewissheit verwehen würde, ohne dieses Mädchen sein Leben zu verpassen. Sie bemühte sich, seinen Schmerz sachlich zu sehen – er wird neue Erfahrungen machen, die ihn ablenken werden, dachte sie. Und was sie sah, gab ihr doch recht. Alles war gut.
Wie hätte sie ahnen können, dass seine Vorsätze den Charakter eines Ultimatums angenommen hatten. Und am Ende seine Überzeugung steigerten, dass er am Abgrund lebte. »Irgendwann merkte ich jedoch, dass ich nicht mehr so lange durchhalten kann«, schrieb er im zweiten Teil des Briefes an seine Freunde. David setzte sich wiederum Ziele, diesmal allerdings »letzte Ziele« – »den Grand-Prix-Lauf von Bern zu absolvieren und noch einen letzten Ausflug mit dem Team 72 in den Europapark zu genießen« –, danach waren seine verbliebenen Reserven gegen einen Sprung ins Bodenlose aufgebraucht.
»Wahrscheinlich habt ihr es, wie so viele, nicht einmal bemerkt, dass es mir im letzten halben Jahr überhaupt nicht mehr gut ging« – so vermutete David im Abschiedsbrief an seine Eltern. Und so war es. Sie war überzeugt gewesen, dass sich ihr Sohn mit Aktivitäten über seine verletzten Gefühle hinweggetröstet hatte. Und davon ist sie eigentlich bis heute überzeugt. Denn die zerronnene Liebe mochte ein Auslöser oder ein Beschleuniger für seinen Freitod gewesen sein, aber nicht mehr. Das ist ihr klar. Auch dank David, der schrieb: »Das Ganze fing bei mir an, als meine Beziehung auseinanderging und ich schon da praktisch keinen Ausweg mehr sah. Irgendwann realisierte ich aber, dass es sich nicht nur darum dreht.«
Trotzdem kann Pia Jaeggi manchmal der Versuchung nicht widerstehen, dieser jungen Frau Schuld zuzuschieben. Wie konnte sie nur von David abweichende Ansprüche haben? Warum konnte sie ihn nicht einfach zurücklieben? Warum gab sie ihm nicht, was er brauchte? Und warum, bitte, forderte sie ihn auf, mit ihr auf ein Jubla-Fest zu gehen, und dann redete sie dort kein einziges Wort mit ihm? Das hat ihn so sehr verletzt. Da ist sie wieder, ihre Wut. Pia Jaeggi entledigt sich zeitweise ihrer Verzweiflung, indem sie sie in Wut verwandelt. Das hilft, allerdings nur so lange, bis ihr Verstand wieder einsetzt. Denn sie weiß, dass man Gefühle nicht verordnen kann, weder sich noch anderen, dass diese Frau also keine Verantwortung trägt. Sie weiß, dass sie nicht der Grund für Davids Abschied war. Sie weiß es.
Doch was war der wahre Grund? Sie liest Davids Briefe, wieder und wieder. »Ich kann nicht sagen, was der
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