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Liebe, lebenslänglich

Liebe, lebenslänglich

Titel: Liebe, lebenslänglich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula von Arx
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Jahren umgebracht hätte. Dass er seinen Freitod minutiös geplant hatte, macht es für Pia Jaeggi (63) nicht einfacher, den Verlust ihres Sohnes auszuhalten. Zu ihrer Überlebensstrategie gehört, dass sie sich nicht versteckt.
    Am frühen Morgen des 24. Juni 2010 verließ David das Haus, in dem sie ihn geboren hatte. Beim Säureturm der Zellstofffabrik Borregaard im schweizerischen Attisholz deponierte er sein Fahrrad und sein Portemonnaie, für Herankommende gut sichtbar. Um 3 Uhr 48 schrieb er eine SMS an eine Freundin: »Hey. Wollte dir nur noch sagen, dass du ein super Mensch bist. Bleib, wie du bist! Du hast mir immer gutgetan.« Er rief die Polizei, denn seine Eltern sollten ihn so nicht finden müssen. Dann sprang er.
    Auf seinem Kopfkissen fand Pia Jaeggis Mann elf Kuverts im A4-Format und die Bitte, sie an die jeweiligen Adressaten zu verteilen. Letzte Worte ihres Sohnes an seine Freunde, seine Ex-Freundin, seine beiden Schwestern und an sie, die Eltern. »Liebes Mam«, las sie, »lieber Pap. Ich weiß nicht, wie es ist, eine Person zu verlieren, die aus dem eigenen Fleisch und Blut entstanden ist.« Und so weiter. Sie hatte keinen Zusammenbruch, hörte keinen Schrei. Sie konnte nicht schreien, nicht weinen. Sie stand unter Schock. Ihre älteste Tochter verständigte die Polizei. Die kam und machte ihre schlimmsten Befürchtungen wahr.
    Ein paar Tage noch und David wäre 23 geworden. Ein doch schon gefestigtes Alter, findet Pia Jaeggi und darin Trost. Was, wenn er aus einem pubertär überhitzten Zwischenfall heraus gehandelt hätte? Der Gedanke, dass die Tat hätte verhindert werden können, wäre ein permanenter, peinigender Begleiter. Auch so ist er präsent. Sie muss damit leben, ihrem Sohn nicht nah genug gewesen zu sein. Niemand war es, nicht seine beiden Schwestern, nicht seine besten Freunde. Sie alle waren ihm nah, doch nicht nah genug. Niemand wusste, wie dünn der Faden war, an dem sein Leben hing. Er ließ es nicht zu. Hätte sie sich ihm aufdrängen müssen? Mehr Fragen stellen? Nur kann man mit Worten manchmal mehr zertreten als mit Füßen. Mit Schweigen allerdings auch. Sie hätte ihm mehr Fragen stellen müssen. Freundliche Fragen. Nicht bohrende, eher leichte, helle, die ihn geöffnet hätten, vielleicht. Vielleicht hätte sie ihn damit beschützen können. Aber wie soll eine Mutter ihr erwachsenes Kind vor sich selber schützen?
    Sie sah ihn manchmal tagelang kaum. Nicht einmal den Schlüsselanhänger konnte sie ihm mehr geben, den sie auf ihrer Spanienreise als Geschenk für ihn gekauft hatte. Er ging frühmorgens weg und kam oft spät in der Nacht wieder nach Hause. Und wenn er da war, machte er sich gern unsichtbar. Er versteckte sich vor ihnen, so kam es ihr manchmal vor. Das sagte er selbst in seinem Abschiedsbrief: Es tue ihm leid, dass er sich »in der letzten Zeit immer im Zimmer verkrochen und nicht viel erzählt habe«. Was hätte sie tun können? Er studierte, er arbeitete, er ging aus, skatete mit Leidenschaft und joggte regelmäßig, er engagierte sich in mehreren Vereinen, im Team 72 und in der Jubla, diesem schweizerischen Kinder- und Jugendverband, der lose mit der katholischen Kirche verbunden ist. Er war ein viel beschäftigte junger Mann mit einem riesigen Freundeskreis, der ihn zusätzlich von ihr abschirmte. Er hatte ein eigenes Leben. Und ihr schien dieses Leben bunt zu sein und voller Pläne.
    Und gerade in der letzten Zeit hatte er sein Wesen umgestülpt, hatte seine Zurückhaltung hinter sich gelassen wie eine zu eng gewordene Haut. Zum Beispiel ließ er sich im Team 72 zum Vizepräsidenten wählen, oder er verkaufte Theaterkarten, ebenfalls fürs Team 72, von Haus zu Haus. Sie staunte, ihr Mann auch. Das verlangte doch eine gewisse Forschheit. Und hinterher hörte sie von den Leuten im Dorf, was für ein flotter Bursche der David doch geworden sei. Pia Jaeggi glaubte ihren Sohn jetzt auf einem guten Weg, ja, das glaubte sie wirklich.
    Wie ahnungslos kann eine Mutter sein? David hatte seinen Abschied von langer Hand geplant. Nichts übergab er dem Zufall. Er hinterließ ein Testament und eine detaillierte Liste von Dingen, die noch zu erledigen seien, von der Annullierung eines Fluges nach Wien bis hin zur Abmeldung vom Zivildienst. Er formulierte letzte Wünsche: Bitte spart euch teuren Grabschmuck, bitte gebt meinen Körper zur Organspende frei, bitte trennt euch rasch von meinen Kleidern – das hilft vor allem euch –, und bitte ein Urnengrab im Dorf,

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