Liebe, lebenslänglich
Grund war, jedoch lag mir nie wirklich viel an meinem Leben, selbst in guten Zeiten nicht«, steht da, und: »Es war ein Geschenk, das ich wohl nicht richtig zu schätzen wusste.« Er hätte zwar »bis anhin ein gutes Leben gehabt«, trotzdem sei er mit sich selbst nicht zufrieden: »Wie ich bin, wie ich lebe und gelebt habe und ein klein wenig auch mit meinem Aussehen.« – »Ich bin mit meinem Leben noch nie wirklich klargekommen«, schreibt David an anderer Stelle und erwähnt den abgebrochenen Militärdienst: »Wenn ich jetzt zurückblicke, muss ich zwar sagen, dass ich durchgehalten hätte, wenn ich gewollt hätte. Aber genau dieser Wille fehlt mir wahrscheinlich im Leben.«
Ihr Sohn wollte nicht leben. Er wollte einfach nicht mehr. Sie ist die Mutter eines Sohnes, der nicht mehr wollte. Sie ist die Mutter eines Sohnes, der nach eigenen Aussagen alles hatte – »ein paar sehr gute Freunde«, »die besten Eltern, die man sich nur wünschen kann«, »eine gute Ausbildung und Hobbys« – und doch nicht froh werden konnte. Kann sie das verstehen?
Wenn sie am Turm vorbeifährt, von dem David sich in die Tiefe stürzte, schreit sie manchmal laut auf. Sie schreit und kann nicht mehr aufhören zu schreien. Ihr Kind ist tot, und der Turm steht noch immer. Er besetzt für sie genau die Stelle, wo David fehlt. Auch wenn Pia Jaeggi einen jungen Mann in Militäruniform sieht oder in einer Jeans, wie David sie getragen hat, wird ihr schwer ums Herz.
Den Pyjama, den er zuletzt trug, hat sie lange aufbewahrt und immer wieder daran gerochen. Er war für sie wie ein Lebenszeichen. Die Bettwäsche, auf der seine Abschiedsbriefe lagen, holt die schlimmsten Augenblicke ihres Lebens zurück, wann immer sie ihr in die Quere kommt. Vom Zimmer, das David bewohnte, haben sie sich getrennt. Ihr Mann nutzt es jetzt als Büro. Vom Fenster aus kann er direkt auf Davids Grab schauen. Sie haben ihn im Garten begraben. Ein Urnengrab auf dem Friedhof, das hätte nicht zu David gepasst, da waren sie sich gegen seinen Wunsch einig. So ist er bei ihnen.
Pia Jaeggi hat nach Davids Geburt angefangen, für ihn ein Tagebuch zu schreiben, das sie ihm zu seinem zwanzigsten Geburtstag schenkte. Seine Kindheit, seine Jugend. Zeichnungen, Sprüche, Fragen. Dieses Tagebuch schaut sie jetzt öfter an und fahndet nach eigenen Versäumnissen. Hätte sie bei einem Satz wie »Mama, möchtest du lieber leben oder lieber sterben?« hellhörig werden müssen? Oder auch: »Gäll, wir können nicht wissen, wann wir sterben?« Sie sieht das Kreuz vor sich, das er mit acht Jahren gebastelt hat. Was bedeutet es, wenn ein Kind von acht Jahren ein Kreuz bastelt?
Pia Jaeggi geht die Lebensjahre Davids gedanklich durch und befragt sie nach ihrem mütterlichen Einfluss. Und wenn sie zu streng mit sich ins Gericht geht, führt sie sich Davids an seine Eltern gerichteten Worte vor Augen: »Wahrscheinlich denkt ihr jetzt: Was haben wir bloß falsch gemacht? Ich kann euch beruhigen, ihr habt überhaupt nichts falsch gemacht!! Ihr wart wahrscheinlich die besten Eltern, die man sich nur wünschen kann.« Und: »Auch wenn ihr immer denkt, dass die Kinder nach ihren Eltern kommen, das stimmt nicht oder nur teilweise. Deshalb ist mein kurzes Dasein in keiner Weise auf euch zurückzuführen. Ich finde es enorm wichtig, dass ihr das versteht!!!«
Sie möchte das schon verstehen. Obwohl es eine Erleichterung und eine Kränkung gleichzeitig bedeutet, was ihr Sohn da sagt, gerade für eine Vollzeitmutter, wie sie es war. Nach der Geburt ihrer ältesten Tochter kündigte sie ihre Stelle als Lehrerin. Sie bediente damit nicht nur die damaligen Erwartungen an eine ordentliche Frau, mehr noch, sie lernte, das Dasein als Hausfrau und Mutter als Verwirklichung ihres ganz persönlichen Wunsches zu begreifen. Sie wollte alles perfekt machen. Sie wollte nur noch für ihre Kinder da sein. Alles andere schob sie in den Hintergrund. Sie las ihnen Geschichten vor und bastelte mit ihnen. Sie erzog sie zu Sauberkeit und lebte aufgeräumte Verhältnisse vor. Weder in der Stube noch an ihren Kleidern duldete sie Schmutz. Wenn jemand sie ermahnte: »Genieße diese Zeit. Sie geht so schnell vorbei«, nickte sie und scheuerte weiter. Wie wenig war sie doch imstande, den Augenblick zu genießen.
Dann kam David. Ihn konnte sie nicht so unaufgeregt durch die ersten Jahre begleiten wie seine beiden Schwestern. Er war anders. Bis drei redete er nicht. Im Mutter-und-Kind-Turnen verweigerte er sich
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