Liebe, lebenslänglich
den nachdenklichen, fröhlichen, offenherzigen, scheuen, schwierigen, hilfsbereiten David. Sie begegnet dem beliebten, kontaktfreudigen David. Sie redet über ihn, und sie redet mit ihm. Alle Mütter aus ihrer Selbsthilfegruppe reden mit ihren toten Kindern. Noch gibt es keinen Tag, an dem Pia Jaeggi nicht mit ihrem Sohn geredet hat.
David hat keine Hilferufe gesendet, kein Sterbenswort. Seine Abgelöschtheit dem Leben gegenüber hat er ganz für sich behalten. Das hat sie nicht kommen sehen. Ihre Antennen waren auf Erschütterungen dieser Art nicht eingestellt. Wirklich nicht? Wie schwer hatte sie dafür schuften müssen, nicht zu bemerken, wie es um ihren Sohn stand? »Ich habe versucht, das Ganze zu verdrängen und mir nichts anmerken zu lassen, denn dies hätte alles nur noch schlimmer für mich gemacht«, schrieb er. War seine Verstellungskunst so gekonnt? War ihre Ignoranz eine Art Rücksichtnahme? Weil sie ihn mit Fragen nicht traktieren wollte? Kann sie diese Erklärung gelten lassen, als Entschuldigung für ihre unfassbar selektive Dickhäutigkeit? Sie hat nicht begriffen, dass er so leidet. Nichts geahnt. Nichts begriffen. David hat gelitten, und weder sie noch ihr Mann noch seine Schwestern oder seine Freunde haben ihm helfen können.
MAMA, MAMI,
PAPA UND PEPE
Paula Carrière (9) hat zwei homosexuelle Mütter und zwei homosexuelle Väter und findet das prima, obwohl sie manchmal ausgelacht wird in der Schule. Frédéric Carrière (47) hält sich für den glücklichsten Vater der Welt, auch wenn die Elternschaft zu viert sehr anstrengend sein kann.
Frédéric Carrière war 21, als er Peter Degenkolbe kennenlernte. Seit 26 Jahren sind sie nun ein Paar, und er kann sich nicht vorstellen, jemals einen anderen Menschen so zu lieben, wie er ihn liebt. Trotzdem zweifelte er anfangs an sich und der Ernsthaftigkeit seiner Liebe, weil sie einem anderen, ebenso starken Wunsch zu widersprechen schien: »Seit ich denken kann, will ich Vater werden.«
Das Haus, in dem Frédéric Carrière zusammen mit seinem Mann lebt, entspricht dem Einfamilienhaustraum vieler, es wirkt relativ neu, von außen wie von innen, der Rasen ist gemäht, die Blumen blühen, die Böden sind gewischt, die Waschbecken glänzen vor Sauberkeit. So ein Haus kann man sich leisten, wenn man einen sicheren Verdienst hat und in geordneten Verhältnissen lebt – Frédéric Carrière arbeitet als Berater für Außenwirtschaft bei der Industrie- und Handelskammer Lahr, Peter Degenkolbe ist Berufsberater. Es ist das typische Haus eines Mannes, der daneben auch noch einen Baum pflanzt und ein Kind zeugt.
Sein Kinderwunsch scheint Frédéric Carrière so natürlich, dass er sich fast zwingen muss, Gründe dafür zu finden: Er sagt, er möchte weitergeben, was er von seiner Mutter gelernt hat, das Kochen zum Beispiel oder die Faszination für Fremdsprachen, die ihm vom Vater übertragen wurde. Er sagt, dass ihm kinderlose Leben immer leer erschienen, so reich sie auch sein mochten an teuren Reisen, ausgesuchten Möbeln und Zeit für sich allein. Er sagt, es muss einem doch das Herz aufgehen, wenn man Kindern beim Spielen zusehen kann, diese Selbstvergessenheit. Er findet es schön, einen Menschen beim Wachsen begleiten zu können, und er findet es schön, ein Kind zu trösten, wenn es traurig ist. In der Gegenwart von Kindern fallen alle Sorgen von ihm ab, Stress, Beruf, Zukunft, Vergangenheit. Er gibt sich dann ganz dem Augenblick hin. Kinder sind das größte Glück, sagt er, erst wenn man Kinder hat, weiß man, was Glück ist: »Als Vater der achtjährigen Paula und des dreijährigen Félix habe ich meinen Lebenszweck erfüllt.«
Das sind gewichtige Worte, und hinter diesen Worten steht ein langer Weg. Wäre Frédéric Carrière eine Generation früher geboren, wäre ein offenes Leben als schwuler Vater praktisch undenkbar gewesen. Sogar jetzt noch musste er seinen Kinderwunsch nach allen Seiten hin verteidigen. Zuerst sich selber gegenüber, das war der leichteste Part. Denn er war sich sicher, dass er ein Kind um des Kindes willen wollte, und nicht, um der Welt zu beweisen, dass man auch mit seiner sexuellen Orientierung Vater werden kann. Er konnte auch ausschließen, dass er mit einem Kind seine Eltern entschädigen wollte für die Enttäuschung, die sie empfanden, als sie erfuhren, dass er Männer liebt. Denn sie zeigten eher Bedenken als Freude, als sie von seinem Plan erfuhren: Das arme Kind wird immer gehänselt werden, sagte sein
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