Liebe lieber lebenslänglich: Roman (German Edition)
nicht tanzte. Er sah gut aus, mein Dad. Ich weiß nicht genau, ob man das von seinem eigenen Vater sagen kann, aber er war wirklich ein schöner Mann. Er hatte grau melierte Haare und stets ein Funkeln in den Augen. Er war behaarter als die meisten Männer in der Tänzerszene. Mum sagte, das wirke maskuliner, aber er beschwerte sich immer darüber, dass er sich zweimal am Tag rasieren musste.
Meine Mutter vergötterte meinen Vater. Jeder vergötterte meinen Vater. Er hatte an jenem Tag einen Termin in Soho mit ein paar Fernsehleuten, die sich mit ihm über eine Tanzshow zur besten Sendezeit unterhalten wollten. Er war aufgeregt. Mein Dad glaubte fest daran, dass die Welt ein viel netterer Ort wäre, wenn wir alle singen und tanzen würden. Ich war an jenem Morgen so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass ich ihm nicht einmal Glück wünschte.
»Ich liebe dich, Gracie Flowers«, sagte er, als er aufhörte zu singen, und gab mir einen Kuss auf den Kopf.
»Ich dich auch«, erwiderte ich.
Zum Glück habe ich das gesagt, weil meine Mum es nämlich nicht getan hat. Sie redete überhaupt nicht mit ihm, als er an jenem Morgen das Haus verließ. Meine Eltern hatten sich am Abend zuvor gestritten. Ich weiß nicht mehr genau, worum es ging, aber ich glaube, meine Mutter war sauer, weil sie zu dem Termin nicht miteingeladen worden war. Sie fürchtete, dass mein Vater in der Show eine jüngere und glamourösere Partnerin bekommen sollte. Meine Eltern hatten immerhin fast zwanzig Jahre zusammen getanzt.
Später in der Prüfung las ich mir die Fragen durch, wie man uns empfohlen hatte, und wollte gerade mit der ersten Aufgabe beginnen, als eine Lehrerin in den Prüfungsraum schlich und mit der Aufsicht flüsterte. Ehe ich michs versah, tippte mir die Lehrerin auf die Schulter und führte mich aus dem Raum, um mir zu eröffnen, dass mein Vater einen Unfall gehabt hatte. Eine andere Lehrerin fuhr mich zum Krankenhaus, aber es war zu spät. Ich sah meine Mutter hinter einer Glastür im Gespräch mit einem Arzt. Dann hörte ich sie laut aufschluchzen. Und es war der schlimmste Laut, den ich jemals gehört habe.
Er war vor einen Bus gelaufen. Es hört sich fast komisch an. Er überquerte gerade die Regent Street, als ein Fan nach ihm rief. Er blieb stehen, winkte und machte ein paar Tanzschritte, bevor er direkt vor einen Bus lief. Dämlicher Idiot.
Trotzdem ruht er an einem zauberhaften Ort. Die Luder-Weißbirke flüstert ihm ins Ohr, und ich komme einmal in der Woche vorbei auf ein Schwätzchen und einen Song. Meine Mutter kommt ihn nie besuchen. Seit der Beerdigung war sie kein einziges Mal mehr hier. Seit der Beerdigung war sie im Grunde nirgends mehr.
Bei meinen ersten Besuchen kauerte ich mich immer auf den Boden im Bewusstsein, dass er nur wenige Meter unter mir lag, und weinte. Dann fing ich an, mit ihm zu reden. Ich erzählte ihm alles über Danny Saunders, der mir zur Seite stand. Ich erklärte Dad, dass ich mich nicht für die Musikhochschule bewerben könne, etwas, worüber wir öfter gesprochen hatten. Ich begründete dies damit, dass ich Mum nicht allein lassen konnte. Ich berichtete ihm detailliert von dem Gesangswettbewerb, an dem ich kurz nach seiner Beerdigung teilgenommen hatte, und dass ich mir die Seele aus dem Leib gebrüllt hatte, während Ruth Roberts vor der Jury sang, und dass man mich gebeten hatte, in Zukunft von einer Teilnahme abzusehen, dass ich aber ohnehin keine Lust mehr hatte. Irgendwann gingen mir die Themen aus, weil mein Leben scheinbar aufgehört hatte, sich in irgendeine Richtung zu bewegen. Also fing ich an, meinen Ghettoblaster auf den Friedhof zu schleppen und Dad Musik vorzuspielen. Irgendwann gab der Ghettoblaster seinen Geist auf, und ich verlegte mich aufs Singen.
Eines Tages, als ich ihn besuchte, entdeckte ich ein neues Grab ein Stück weiter. Ich betrachtete die frische Erde und die frischen Blumen. Es gibt nichts Traurigeres als frische Erde auf einem Grab. Man denkt dabei unwillkürlich an die Hinterbliebenen und ihren Verlust. An jenem Tag sang ich für Dad Mr. Bojangles . Tatsächlich sang ich es nicht nur, ich machte sogar ein paar Tanzschritte dazu. Als ich fertig war, hörte ich jemanden klatschen und »Bravo!« rufen. Ich blickte mich um und entdeckte ein Paar, einen älteren Herrn und eine ältere Dame, beide in Gummistiefeln und Wachsjacken. Der Mann trug eine Thermoskanne und die Frau einen Narzissenstrauß von Sainsbury’s. Das weiß ich, weil ich genau so einen
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