Liebe lieber lebenslänglich: Roman (German Edition)
Strauß schon einmal für Dads Grab gekauft habe.
»Bravo«, sagte der Mann noch einmal.
Ich wurde rot. Ich fühlte mich, als wäre ich nackt erwischt worden. Ich hatte bisher noch nie jemanden auf dem Friedhof getroffen. Niemand sonst kam in die Ecke mit der Weißbirke.
Die Frau legte die Blumen auf das frische Grab. Sie war vielleicht Mitte sechzig, aber sie war immer noch eine sehr schöne Frau. Sie sah aus wie eine Ballerina im Ruhestand.
»Du hast vielleicht ein Glück, Mum«, sagte sie lächelnd zu dem Grab. Dann wandte sie sich an mich. »Sie kennen nicht zufällig Heaven, I’m in heaven , oder doch?«
Der Mann in den Gummistiefeln und der Wachsjacke lachte laut. Ich habe noch nie jemanden so lachen hören. Mit diesem Lachen hätte er buchstäblich Tote auferwecken können. Ich dachte, gleich sind wir mitten in einer Szene aus Michael Jacksons Thriller-Video.
»Das würde ihr sicher gefallen!«, brüllte er, und die schöne Frau stimmte in sein Lachen ein.
Natürlich kannte ich den Song. Fred Astaire, der Tanzheld meines Vaters, singt ihn in einem alten Schwarz-Weiß-Film. Also sang ich, und die beiden tanzten wie Fred und Ginger. Es war seltsam und wundervoll, und anschließend stellte sich das Paar vor. Leonard und Joan, Bruder und Schwester. Leonard schraubte seine Thermoskanne auf und teilte mit mir seinen Kaffee mit einem Schuss Whisky.
»Camille Flowers«, sagte Joan und blickte auf das Grab meines Vaters. »Ein wundervoller Tänzer. Es war so traurig, als er gestorben ist.« Und sie nahm mich in den Arm.
Gott, ich kann mich noch genau an diese Umarmung erinnern. Ich schloss die Augen und verschmolz darin. Es machte mir bewusst, dass meine Mutter mich seit Jahren nicht mehr in den Arm genommen hatte.
Wir verabredeten uns für die nächste Woche und dann für die übernächste, und mittlerweile sehen wir uns jeden Samstag – seit sieben Jahren. Leonard bringt immer seine Thermoskanne mit und ich die Doughnuts.
Heute denke ich allerdings nicht an unsere Geschichte, als ich in die Ecke mit der Weißbirke gehe. Ich denke an John St. John Dingsbums, der mir den Job weggeschnappt hat.
Joan und Leonard sitzen bereits auf ihrem Platz, dem Gedenkstein für Alfred George Roberts, einen Textilhändler, der 1893 starb. Es heißt, es war die Syphilis, die ihn dahinraffte, aber das wissen wir nicht sicher.
» Happy birthday to you … «, fangen sie an zu singen. Wir haben einige Geburtstage zusammen gefeiert im Laufe der Jahre.
»O Schätzchen …«, sagt Joan, als sie mein deprimiertes Gesicht sieht. »Ist es nicht nach deinen Vorstellungen gelaufen?«
»Nein! So ein arroganter Schönling hat den Job gekriegt. Irgend so ein blöder Typ, der noch nicht einmal aus unseren eigenen Reihen kommt.«
»Das ist der blanke Hohn! Soll ich ihn mir einmal vorknöpfen?«, fragt Leonard, während er sich einen Doughnut aus der Tüte nimmt.
»Heute nur einen, Len. Dein Blutzucker war vorhin ziemlich hoch«, ermahnt Joan ihn.
»Spielverderberin! Nun, Grace, da wir gerade bei unerfreulichen Themen sind … Was sagst du zu diesem Brief?«
»Zu welchem Brief?«
»Da ist ein Schreiben gekommen. Hast du keins erhalten? Von einer Firma … Joan, wie heißt sie noch gleich? Vorhin im Wagen wusste ich es noch.«
»Irgendetwas mit Bau.«
»Ja, ja, irgendetwas mit Bau. Aber was genau? SJS Bau? Hieß sie so?«
»Ich glaube, so heißt sie, Len.«
»Nun, Grace, jedenfalls möchte dieses Bauunternehmen das Land kaufen, auf dem wir gerade stehen. Die wollen hier eine Zugangsstraße für irgendein großes Projekt, das gerade in Planung ist, bauen.«
»Die können doch nicht so arrogant sein und allen Ernstes glauben, dass sie einfach so mitten durch einen Friedhof eine Straße bauen können!«, sage ich.
»Doch, sind sie. Der Stadtrat hat das Projekt wohl abgesegnet, weil nur eine Handvoll Gräber betroffen sind. Das von unserer Mutter, von deinem Vater, von Alfred und noch zwei weiteren, glaube ich. Die Angehörigen der Verstorbenen haben allerdings das letzte Wort.«
»Gott sei Dank. Bestimmt haben die meine Mutter angeschrieben. Denen werde ich eine passende Antwort schicken. Die können sich ihre Zugangsstraße sonst wohin schieben.«
»Das ist unser Mädchen. Okay, Feeling good ?«, fragt Leonard.
Ich gehe hinüber zu Dad.
»Hi, Dad«, sage ich leise. »Kein guter Tag für den Fünfjahresplan. Sorry.«
Ich mache eine kurze Pause, dann fange ich an zu singen. Und wie an jedem meiner Geburtstage werde ich
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