Liebe lieber lebenslänglich: Roman (German Edition)
dass er für kein Geld der Welt verkaufen wird. Er hat abgelehnt. Er hat auch für dich gesprochen, Grace. Er hat erklärt, dass wir drei regelmäßig hierherkommen, um den Verstorbenen unseren Respekt zu bezeugen, und dass man das nicht mit Geld aufwiegen kann.«
»Dieser verdammte Lump!«, schimpft Leonard laut, als er zu uns stößt. »Ich kenne den Kerl von früher. Nicht gut, aber wir haben mal vor Jahren zusammen Kricket gespielt. Er hat zuerst so getan, als wäre er ein alter Bekannter, nicht wahr, Joan? Joan hat sogar Tee für ihn gekocht! Und dann hat er seine Maske fallen lassen, von einem Moment auf den anderen …«
»Das stimmt, Grace, das stimmt.«
»Dabei müsste gerade er das nachvollziehen können. Schließlich hat er vor Jahren seine Frau verloren, nicht wahr? Wie hieß sie noch gleich?«
Joan schüttelt den Kopf.
»Oh, wie hieß sie denn? Eben wusste ich es noch«, brummt Leonard. »Jedenfalls eine reizende Person. Ein schrecklicher Verlust für ihn. Er fiel völlig auseinander.«
»Leonard hat ihm damals einen wundervollen Kondolenzbrief geschrieben.«
»Und seht nur, was der Dank dafür ist. Das schreit geradezu nach einem Leserbrief an die Gazette . Ich werde dafür sorgen, dass diese Sache in die Lokalnachrichten kommt. Ihr werdet sehen.«
»Beruhige dich, Len, denk an deinen Blutdruck«, sagt Joan beschwichtigend.
Ich hole die Doughnuts aus meiner Tasche, und als ich den Kopf hebe, fällt mein Blick auf das Industriegelände auf der anderen Seite des Kanals. Dort parkt ein Wagen. Es ist ein großer Range Rover. Aber nicht irgendein alter Benzinschlucker, sondern ein neuer mit einem Schriftzug auf der Seite, der verdächtig dem Logo von SJS Bau ähnelt. Neben dem Wagen steht ein großer, silberhaariger Mann, der etwas vor sein Gesicht hält. Es könnte ein Fernglas sein, vielleicht auch eine Kamera, also strecke ich den Mittelfinger in seine Richtung. Ich komme mir dabei vor wie ein Hooligan, und es ist alles in allem kein unangenehmes Gefühl. Das da drüben muss das Grundstück sein, auf dem er bauen will. Und dafür braucht er ganz offensichtlich eine Zugangsstraße. Ich lasse den Finger oben, bis er in seinen Wagen steigt.
»Okay, hat jemand Lust auf Simon & Garfunkel?«
Leonard und Joan geben keine Antwort, sondern blicken mich nur mit traurigen Augen an.
»Schon gut, ich werde Mum dazu bringen, dass sie ihre Meinung ändert. Dann müsst ihr nicht den ganzen Druck allein aushalten«, verspreche ich ihnen und klinge dabei weitaus zuversichtlicher, als ich tatsächlich bin.
24
Meine Mutter. Tja, tiefer Seufzer. Wo soll ich anfangen? Früher, als Dad noch lebte, haben Mum und ich uns verstanden. Wenn ich ehrlich bin, hatten wir eine großartige Zeit. Dad fand das Leben ungemein spannend. »Grace, rate mal, was ich gesehen habe!« »Rose, du ahnst ja nicht, was passiert ist!« »Hört euch das an, meine Lieben!« Er steckte uns an mit seinem Staunen über die kleinsten Dinge: eine neue Version eines seiner Lieblingssongs, eine lustige Fernsehkomödie, ein bequemer Pullover. Er begeisterte sich für die unwichtigsten kleinen Dinge, was zur Folge hatte, dass Mum und ich das auch taten. Als er starb und wir allein waren, fanden wir nichts mehr wunderbar, am wenigsten uns gegenseitig.
Früher hielt ich meine Mutter für eine Prinzessin. In meiner kindlichen Vorstellung sah jede Märchenprinzessin aus wie Mum. Wenn Aschenputtel auf dem Ball mit dem Märchenprinzen tanzte, waren das meine Eltern beim Wiener Walzer. Meine Mutter schwebte leicht wie ein Schmetterling über das Parkett, einen verträumten Ausdruck in ihrem fein geschnittenen Gesicht, während mein Vater sie galant in seinen Armen führte. Mum wurde zum Liebling der Nation und hatte bald einen Manager, der Interviews für Zeitschriften und TV-Auftritte organisierte. Sie war sogar mal im Frühstücksfernsehen.
Die Rosemary Flowers, der man heute begegnet, könnte nicht unterschiedlicher sein. Seit mindestens drei Jahren hat sie das Haus nicht mehr verlassen. Ich weiß nicht sicher, ob nicht vielleicht sogar schon länger, wenn ich ehrlich bin. Ich denke, es begann an dem Tag, an dem ich bei dem Gesangswettbewerb meinen Anfall hatte. Wenn ich sage, dass ich damals herumgekreischt habe, braucht ihr nicht zu glauben, dass ich bloß ein paar spitze Schreie ausstieß, denn das wäre definitiv untertrieben. Nein, ich habe gebrüllt wie am Spieß. Ich habe gebrüllt, als würde jemand vor meinen Augen abgeschlachtet oder als
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