Liebe lieber lebenslänglich: Roman (German Edition)
würde ich selbst abgeschlachtet. Und ich bin auf die Bühne gerannt, aber nur, weil das der schnellste Weg in Richtung Ausgang war. Ein Mann ist hinter den Kulissen hervorgestürzt und hat mich eingefangen, während ein anderer aus dem Zuschauerraum hochlief, um ihm zu helfen. Gemeinsam trugen sie mich hinaus, während ich weiterschrie, und irgendwer rief den Notarzt. Ich beruhigte mich, sobald wir draußen waren, doch nur, indem ich aufhörte zu schreien und stattdessen anfing zu weinen. Ich weinte lange an jenem Tag – so lange, dass ich Angst bekam, nie wieder aufhören zu können. Seitdem habe ich nie wieder geweint.
Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter bei mir im Krankenwagen saß, aber ich weiß noch, dass sie im Krankenhaus zitternd auf den Boden sank, als könnte sie nicht mehr ertragen, was das Leben ihr zumutete. Nachdem wir von diesem Ausflug zurückkehrten, herrschte zwischen uns unausgesprochenes Einvernehmen darüber, dass wir nicht wirklich gesellschaftsfähig waren und daher lieber eine Zeit lang zu Hause bleiben sollten. Aber während ich mich irgendwann wieder hinaustraute, tat meine Mutter das nicht. Es wurde schlimmer und schlimmer mit ihr. Inzwischen hockt sie nur noch den ganzen Tag zu Hause, bestellt Sachen im Internet, trainiert und grübelt. Ich frage mich manchmal, ob ich so viel arbeite, damit ich nicht zum Nachdenken komme. Es gibt nichts Schlimmeres, als die Gelegenheit zu haben, diesen bohrenden Zweifeln im Kopf zu lauschen. Lieber verkaufe ich Häuser. Trotzdem darf ich mich nicht beschweren, immerhin mache ich mir keine Sorgen mehr, dass Mum sich umbringt. Es gab nämlich eine Zeit, in der Wendy und ich sie aus Angst, sie könnte sich etwas antun, ständig im Auge behielten. Es war schrecklich.
Bevor Dad starb, nähte Mum ihre Tanzkleider selbst. Sie ging regelmäßig zum Shepherd’s Bush Market, wo sie mit den Stoffhändlern feilschte und flirtete, und anschließend kam sie mit lauter Stoffrollen nach Hause und setzte sich tagelang an die Nähmaschine. Ich beobachtete immer fasziniert, wie ihre Kreationen sich auf der Schneiderbüste entwickelten. Das rhythmische Rattern der Nähmaschine hat mich in meiner Kindheit stets begleitet.
In den dunklen Jahren, wie ich die Zeit nenne, als Mum und ich allein zu Hause waren, machte sie einen großen Bogen um ihre Nähmaschine. Sie stand nur noch herum und verkümmerte zu einem Staubfänger, zu einem weiteren Symbol für ein Leben, das aufgegeben worden war, bis ich eines Tages von Danny zurückkam und das gespenstische Rattern der Nähmaschine aus meiner Vergangenheit hörte. Ich schlich hinauf ins Gästezimmer, und da saß meine Mutter, umringt von Stoffbahnen aus Samt und Seide, alle in sich gemustert, aber alle schwarz. Sie brauchte Wochen, länger als für jedes andere Kleid, das sie jemals genäht hatte, und als es fertig war, ließ das Resultat einem das Blut in den Adern gefrieren. Es war mit Abstand das prächtigste Kleid, das ich je gesehen habe, und ich lud Wendy ein, um es ihr zu zeigen.
»Dagegen wirken die ganzen Oscar-Roben richtig schäbig«, flüsterte Wendy, als sie es sah.
Das Kleid hatte einen wadenlangen Rock aus Samt, der eng die Hüften umschmiegte und in leichten Rüschen hinunterfiel, als würde er hinten in einer Schleppe münden. Aber es gab keine Schleppe, nur eine kleine Kräuselfalte, die direkt unter dem Po begann. Die Corsage aus Seide war herzförmig und hatte seitliche Samteinsätze, und auf die Vorderseite hatte Mum unzählige winzige Perlen und Pailletten gestickt.
»Wofür ist das?«, flüsterte Wendy.
Ich zuckte mit den Achseln. »Das ist jedenfalls kein Kleid, das zum Tanzen geeignet ist. Sie hat darin nur wenig Beinfreiheit. Aber sie braucht kein Abendkleid, weil sie sowieso nie ausgeht.«
»Was hat sie dann damit vor?«
Ich erstarrte. »Sie will darin sterben.«
Wendy keuchte erschrocken auf. »Sei nicht albern«, sagte sie, aber auf eine Art, die nicht vermuten ließ, dass sie meinen Verdacht albern fand.
Wir verließen wie in Trance das Gästezimmer, dann liefen wir durch das Haus und sammelten hektisch alle Schmerztabletten und scharfen Messer ein in der Überzeugung, dass meine Mutter dieses wunderschöne Kleid genäht hatte, um meinen Vater im Himmel zu treffen. »Das Totenkleid« nannten wir es, und in seiner Gegenwart sprachen wir nur im Flüsterton. Es hing über ein Jahr auf der Kleiderbüste wie ein böses Omen, bis ich eines Tages ins Gästezimmer ging und sah, dass es
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