Liebe lieber lebenslänglich: Roman (German Edition)
hätte große Lust zu singen. Sogar mehr denn je, nun, da meine Welt scheinbar auseinanderbricht. Ich hätte große Lust, Zuflucht in der Musik zu suchen. Ich hätte große Lust, nach dem Mikrofon zu greifen und loszulegen. Ich hätte große Lust, die Welt zu vergessen und einfach nur meine Lieblingssongs mit den Menschen zu teilen. Und ich hätte große Lust, dies mit Anton zu tun.
Dann tu es, Gracie!
Also gut, ich mache es.
Ich stehe auf, aber offenbar kann ich mich nicht besonders schnell bewegen. Tatsächlich kann ich mich offenbar gar nicht bewegen. Ich werde es trotzdem durchziehen. Gracie Flowers, zehn Jahre später. Wünscht mir Glück.
Instrumentale Musik beginnt zu spielen. Anton muss sie aufgelegt haben, um die Stille zu überbrücken, während ich zur Bühne unterwegs bin. Ich kann ihm keinen Vorwurf daraus machen, schließlich benötige ich eine verdammte Ewigkeit. Ich bahne mir einen Weg zwischen den Stühlen hindurch nach vorn. Ich schaffe das. Ich schaffe das. Aber während ich mich vorwärtskämpfe und Anton mir entgegenlächelt, erkenne ich das Stück, das gerade läuft. Es ist Amazing Grace . Er hat Amazing Grace aufgelegt, während ich zur Bühne gehe. Es ist dasselbe Stück, das Ruth Roberts damals bei dem Talentwettbewerb sang, als ich ausflippte.
Anton nimmt wie in Zeitlupe das Mikrofon. Er öffnet den Mund … und ich schreie los. Ich fange an, wie von Sinnen zu kreischen. Für jemanden, der seit vier Tagen keinen Ton von sich gegeben hat, ist es, als ob er alles nachholen wollte. Ich brülle, bis mir selbst die Ohren klingeln und ich die Hände dagegenpressen muss. Trotzdem kann ich nicht aufhören. Ich japse und schreie und laufe dann los in Richtung Ausgang. Der ganze Saal starrt mich an, als wäre ich eine Irre, aber das ist mir egal. Ich muss raus. Ich renne die Straße hinunter. Ich kann nicht nach Hause gehen. Das ist zu nah. Ich laufe schreiend weiter, bis ich das Gefühl habe, dass ich weit genug entfernt bin, und bleibe dann keuchend stehen.
»Grace?« Es ist eine Männerstimme. Jemand ist mir nachgelaufen. »Grace! Grace!«
Es ist Freddie. Ich blicke mich um, auf der Suche nach einem Versteck, aber das nützt nichts mehr, weil Keith Moon meine Fährte aufgenommen hat.
»Grace. Was um alles in der Welt ist los?«
»Oh«, beginne ich und unterbreche mich sofort. Ich habe gerade einen Ton von mir gegeben. Mit meiner Stimme. Das war meine Stimme. »Sorry«, sage ich, und meine Schultern entspannen sich plötzlich, als hätte ich sie tagelang bis zu den Ohren hochgezogen. »Sorry«, sage ich wieder. Ich rede. Ich kann tatsächlich wieder sprechen. Danke, lieber Gott! Ich lächle. Freddie mustert mich. »Tut mir leid, aber ich singe nicht mehr vor Publikum. Beim letzten Mal ist mir genau dasselbe passiert. Ich bin durchgedreht. Es tut mir so leid für eure Gäste.«
»Ist schon okay«, sagt Freddie. Er steht verlegen da mit gesenktem Blick, die Hände in den Hosentaschen. »Ich habe mir nur Sorgen deinetwegen gemacht.«
Er trägt ein blaues Hemd. Ich frage mich, ob es dasselbe ist, das er gestern Abend anhatte. Während ich Keith Moon streichle, mustere ich Freddie. Er ist ein Jahr älter als ich, also siebenundzwanzig, und frischgebackener Anwalt. Er hätte in einer großen renommierten Sozietät anfangen können, aber er entschloss sich stattdessen, für eine kleine Kanzlei zu arbeiten, die auf Fälle von Menschenrechtsverletzungen spezialisiert ist. Wendy, die die Bridget-Jones-Bücher liebt, sagt immer, Freddie sei ihr persönlicher Mark Darcy. Freddie ist groß und breit gebaut, er ist dunkelblond und hat Sommersprossen auf der Nase. Er könnte rein optisch viel eher der ältere Bruder von Prinz Harry sein als William.
»Tut mir leid«, sage ich wieder. Was für eine Erleichterung, meine Stimme zu hören.
»Gott, nein, mach dir keine Gedanken deswegen. Ich wollte mich eigentlich bei dir entschuldigen, Grace, wegen meiner Einladung letztes Wochenende. Danny hat mit mir darüber gesprochen, verstehst du, über Kanada.«
»Kanada?«
»Ja.«
»Ich dachte, er ginge nach Amerika …«
»Der Job ist in Vancouver.«
»Ist das in Kanada? Ich dachte, das sei in Amerika«, sage ich und lache los.
»Oh, verstehe. Nein. Es ist … es ist in Kanada.«
»Kanada …« Es ist nicht lustig, dass ich das nicht wusste, ich sollte also wirklich aufhören zu lachen.
»Aber Vancouver liegt ganz nah an der Grenze zu den Staaten. Jedenfalls, aus diesem Grund habe ich dich zum Essen
Weitere Kostenlose Bücher