Liebe lieber lebenslänglich: Roman (German Edition)
meine Selbstsicherheit in puncto Essmanieren seit dem Vorfall mit der Leber noch nicht vollständig zurückgewonnen habe. Allerdings glaube ich, das Problem war, dass ich davor eine Ewigkeit nichts gegessen hatte. Ich habe herausgefunden, dass ich mich seltener übergeben muss, wenn ich wenig und häufig esse. Aber was, wenn wir in ein Restaurant gehen und der Koch dort brät gerade Leber oder Niere? Oje, bei der bloßen Vorstellung sammelt sich Speichel in meinem Mund. Aber Ricardo hat Rom gesagt, und Rom ist meine absolute Lieblingsstadt auf der ganzen Welt.
»Hm … äh … nun … ja. Gute Idee. Heute Abend um halb acht im Paradise.«
Ich notiere die Adresse und die Uhrzeit auf der Rückseite meiner Visitenkarte. Ich habe eine lokale Institution ausgesucht, ein geräumiges altes Kneipenrestaurant, das groß genug ist, um keinen Brechreiz durch gebratene Leber bei mir auszulösen.
»Paradise. Wir sehen uns im paradiso «, sagt er.
Ich erwidere nichts, sondern schaue ihm lediglich nach, als er weitergeht. Ich denke an Rom. Ich würde alles geben, um noch einmal so einen Tag zu erleben wie damals in Rom.
Während ich meinen Tagträumen nachhänge, nähert sich mir eine Frau. Sie ist klein und gebeugt, und sie kramt etwas aus ihrer Tasche.
»Brauchen Sie Hilfe?«, frage ich.
»Wir alle brauchen Hilfe.«
»Das ist wahr.«
»Die Hilfe des Herrn.«
Jesus. Die Gottesleute haben es immer auf mich abgesehen.
»Ich muss zurück an die Arbeit. War nett, Sie kennenzulernen.«
»Lesen Sie bitte die guten Neuigkeiten«, sagt sie und streckt mir eine kleine Broschüre entgegen.
»Danke«, erwidere ich und nehme sie ihr lächelnd ab, dann huscht die Frau weiter. Ich blättere das Heftchen kurz durch. Auf einer Seite ist ein Foto von einem rosaroten Baby abgebildet, zusammengerollt im Mutterleib. Winzige Finger, winzige Zehen und ein winziges Ohr. Es sieht aus, als würde es am Daumen nuckeln. Mein Baby nuckelt vielleicht auch am Daumen. So wie ich es getan habe, als ich klein war.
Der Text unter dem Bild enthält nur drei Worte: Leben statt Tod.
42
Meinen allerschönsten Tag hatte ich in Rom. Es war märchenhaft. Und zwar so märchenhaft, dass ich mich manchmal frage, ob ich es wirklich erlebt habe. Es kommt mir vor, als wäre die junge Frau in meiner Erinnerung eine völlig andere. Ich war fünfzehn, und ich war mit meinen Eltern nach Rom gereist, weil dort die Weltmeisterschaft in den Standardtänzen stattfand. Normalerweise begleitete ich meine Eltern nicht zu Turnieren, aber dieses Mal war es anders. Ich wurde sogar eigens dafür vom Unterricht befreit, weil man mich gefragt hatte, ob ich in Rom singen könnte. Die Veranstalter wünschten sich, dass ich vor der Preisverleihung sang. Also sang ich. Und zwar Mr. Bojangles . Aber ich war nicht allein auf der Bühne – mein Vater begleitete mich.
Ich versuche, nicht zu oft auf die Zeit zurückzublicken, als Dad noch lebte, aber manchmal kann ich nicht anders. Es kommt mir oft so vor, als wäre das Leben in Farbe gewesen, als er noch unter uns war, und nach seinem Tod schwarz-weiß geworden. Dad ließ mich den Song fast allein singen, aber er schlüpfte in die Rolle von Mr. Bojangles. Mr. Bojangles zog früher mit seinem Hund herum und tanzte für Drinks und Trinkgeld. Mein Vater sang nur bei manchen Parts mit und tanzte zu anderen. Zu Hause hatten wir Mr. Bojangles oft zum Spaß gesungen, ich war also nicht nervös. Ich freute mich richtig darauf, und Mum nähte mir extra ein Kleid. Gott, es war wunderschön, Sophia Loren oder Marilyn Monroe hätten es auch angezogen. Es war aus blauem Satin und hatte ein Miederoberteil und einen Rock, der von den Hüften bis zu den Knien eng anlag, sodass ich trippeln musste wie beim Sackhüpfen. Es sah fantastisch aus.
Nach unserer Darbietung brach Applaus aus, und wir verbeugten uns vor dem Publikum, es hörte jedoch nicht auf zu klatschen. Im Saal waren über zweitausend Zuschauer, und sie hörten einfach nicht auf zu klatschen. Ich trippelte von der Bühne, aber der Applaus hielt an, also musste ich wieder hinaus und mich wieder verbeugen. Die Veranstalter sagten hinterher, dass unser Auftritt fünf Minuten gedauert habe und der Applaus sieben. Das war allerdings noch nicht das Beste. Das Beste kam erst noch.
Unser Hotel lag an einer piazza , umringt von Altbaufassaden, und an jenem Abend spielte dort eine Band, ein Gitarrist, ein Bassist und ein Akkordeonspieler. Meine Eltern und ich saßen nach der Preisverleihung in
Weitere Kostenlose Bücher