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Liebe macht blind - manche bleiben es

Liebe macht blind - manche bleiben es

Titel: Liebe macht blind - manche bleiben es Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Nöstlinger
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fix vereinbarte Heimkehr der Lieben um Stunden verzögert, kann keine Frau. Ich auch nicht. Ich erlebte mich noch nie hilflos wütender als in der Situation einer gramvoll Wartenden. Warum das so ist, weiß ich nicht.
    Ich weiß nur eines: Wäre ich beim Warten nicht mehr wütend, wäre das ein grobes Indiz für einsetzenden Mangel an Zuneigung.

Herr M., das Mirakel
    Herr M., den ich seit Jahren kenne, erschien mir lange Zeit als ziemlich durchschnittlicher, nicht weiter bedenkenswerter Mann. Dann lernte ich allerdings seine Familie und außerdem noch etliche seiner Arbeitskollegen kennen. Seither ist mir Herr M. ein Mirakel.
    Die Aussagen nämlich, die seine Familienangehörigen über ihn machen, und die Aussagen, die seine Arbeitskollegen über ihn machen, sind arg verschieden.
    Der Chef sagt von Herrn M.: „Er ist pünktlich und zuverlässig. Nach M. kann man die Uhr stellen. In fünfzehn Jahren hat er noch keinen Termin vergessen, ist er noch nie zu spät gekommen!“ Frau M. sagt von Herrn M.: „Echt rasend an ihm macht mich seine Unpünktlichkeit! Viermal in der Woche warte ich mit dem Nachtmahl und er kommt und kommt nicht! Und wahnsinnig vergesslich ist er auch! Wenn ich ihm am Morgen sage, dass wir am Abend Besuch bekommen, hat er es zu Mittag schon wieder vergessen!“ Der Herr, der mit Herrn M. ein Bürozimmer teilt, sagt von ihm: „Der M. ist ein wahrer Segen. Immer hat er ein Scherzchen parat! Nie ist er grantig! Ach, was haben wir zwei schon miteinander gelacht!“ Herrn M.s Familie ist sich einig: „Er muffelt vor sich hin! Wenn er zu Hause ist, liest er die Zeitung, oder er schaut fern. Und oft ist er so grantig, dass man gar nicht wagt, ihn anzureden!“
    Die Dame, die im Zimmer neben Herrn M. arbeitet, lobt an ihm vor allem sein sensibles Einfühlungsvermögen.
    Herr M. berät sie in der Mittagspause bei ihren privaten Problemen, weiß ihr Trost und Rat in Erziehungsangelegenheiten, Ehekonflikten und Geldnöten.
    Frau M. sagt, dass sie mit ihrem Mann weder die Kindererziehung noch sonstige Familienprobleme besprechen kann. „Entweder hört er mir gar nicht zu“, sagt sie, „oder er bittet mich, ihn mit solchen Dingen zu verschonen!“
    Wie ist Herr M. nun wirklich? Liebenswert oder muffelig? Einfühlsam-sensibel oder stur-borniert? Zuverlässig oder vergesslich?
    Gespalten ist Herr M. Angeblich sind das viele Menschen. Wenn ich es näher bedenke, fallen mir etliche M.s ein. Und sie alle verausgaben ihr Positives im Büro. Ihre Familie hat sich mit dem negativen Rest zu begnügen.

Die Diktatur der Morgenmenschen
    Dass es Morgenmenschen und Abendmenschen gibt, ist bekannt. Ebenfalls bekannt ist, dass die Morgenmenschen in unserer Gesellschaft weit mehr Ansehen genießen als die Abendmenschen.
    Wer bei Sonnenaufgang – oder noch früher – fröhlich vor sich hin pfeifend sein Tagwerk beginnt, dem unterstellt man üblicherweise eine höhere Arbeitsmoral und eine größere Arbeitsleistung als dem, der genauso putzmunter nach Mitternacht vor sich hin werkelt.
    Eine Hausfrau etwa, die mit stolzgeschwellter Brust verkündet: „Wenn die Kinder von der Schule heimkommen, habe ich den gesamten Haushalt bereits tipptopp erledigt!“, darf mit Beifall und Anerkennung rechnen.
    Die Mitteilung hingegen: „Wenn die Kinder dann endlich im Bett sind, fange ich erst so richtig mit der Hausarbeit an!“ sollte tunlichst überhaupt nicht gemacht werden, sonst wird man, je nach Milde oder Strenge der Zuhörer, als hilflos, faul, untüchtig oder arbeitsscheu abgeurteilt.
    Weil die Morgenmenschen bei uns moralisch so hoch im Kurs stehen, dürfen sie auch die Abendmenschen in ihrer Umgebung total unterdrücken, ohne dabei irgendwelche Skrupel zu haben.
    Dass man zum Beispiel den Kindern das Klavierspielen nach 22 Uhr untersagt, ist fast allen Eltern selbstverständlich. Man kann die Nachbarn doch nicht in der Nachtruhe stören.
    Um 6.30 Uhr jedoch, wenn viele Abendmenschen ihre Nachtruhe noch nicht abgeschlossen haben, erscheint den meisten Eltern kindliches Klavierspiel absolut zulässig. Wär’ er halt früher ins Bett gegangen, der verlotterte Nachbar!
    Übersteht ein Mensch den Kaffeehausbesuch nach der letzten Kinovorstellung nur gähnend, stumm und halbgeschlossenen Auges, hält man ihn nicht gerade für eine Stimmungskanone, aber niemand darf ihm seine Schläfrigkeit krummnehmen.
    Gähnt und muffelt sich ein Mensch jedoch lidschwer durch den Vormittag, hat er mit rügenden Bemerkungen zu rechnen und

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