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Liebe oder so

Liebe oder so

Titel: Liebe oder so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Montag
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glänzender Form.
    „Schon gut“, sagte ich, „reicht, wenn du Frühstück machst.“
    Eigentlich hatten Carolin, Christian und ich vorgehabt, gemeinsam auszugehen, aber ich war am Abend zuvor mit Chris im Frisco versackt und mitten in der Nacht bei Minusgraden nach Hause gelaufen. Nun, ein paar ruhige Tage würden mir und meinem Geldbeutel gut tun, wenigstens brauchte ich nicht zur Arbeit und konnte mir mal wieder ein gutes Buch gönnen.
    Die Praxis lag nur zehn Minuten entfernt, aber ich musste erst eine kleine Pause einlegen, ehe ich die Treppen in Angriff nahm. Mein Atem ging pfeifend, und mein Brus tkorb stand in Flammen. Ich kannte das schon, alle paar Jahre erwischte mich die Grippe und wuchs sich dann meist zu einer handfesten Lungenentzündung aus. Ich hoffte bloß, ich kam noch rechtzeitig, um sie wenigstens diesmal zu umgehen.
    „Normalerweise nehmen wir nur Privatpatienten“, sagte das Mädchen am Empfang unfreun dlich und gab mir meine Versichertenkarte zurück.
    „Tja, ich bedaure“, antwortete ich, „ich kenne leider keinen, der im Augenblick krank ist. Aber wenn mir einer begegnen sollte, schick ich ihn gleich vorbei.“
    Sie sah kurz von ihrem Schreibkram auf. „Nehmen Sie Platz, wir werden Sie aufrufen .“
    Das Wartezimmer war menschenleer, statt der übl ichen Lesezirkel gab es Zeitschriften über Architektur, Jagdbedarf und Hochseefischen. Ich blätterte in einem Magazin über Segeln und Surfen und studierte eben die Kleinanzeigen für Rennboote, als ich aufgerufen wurde. Das Mädchen vom Empfang führte mich durch einen Korridor ins Behandlungszimmer, in dem es nur so funkelte vor Chrom.
    „Oberkörper freimachen, der Doktor kommt sofort!“, b efahl das Mädchen und verschwand wieder. Ich tat wie geheißen und wartete. Der Arzt kam nicht, ich begann zu frieren und ging in dem Raum auf und ab. Alles schien nagelneu zu sein, das Besteck lag blankpoliert in Reih und Glied, der Mülleimer enthielt nicht mal den kleinsten Papierfetzen. Im Regal standen zwei dünne Büchlein und das örtliche Telefonbuch, sonst nichts. Das alles machte mich ein wenig nervös, die Praxis wirkte wie die Kulisse einer Arztserie, selbst der Krankenhausgeruch fehlte. Ich setzte mich wieder, brachte das Besteck ein wenig durcheinander und warf ein Kleenex in den Eimer, das war schon authentischer.
    Gegenüber hing das übliche Schema des menschlichen Körpers, mit allen Venen, Arterien, Muskeln und Innere ien, obendrauf ein Totenschädel mit Augäpfeln, die der besseren Übersicht halber teilweise aufgeschnitten waren. Ich erinnerte mich daran, dass ich früher nach jedem Besuch beim Kinderarzt Alpträume hatte, weil diese Zombiewesen mich in meiner Phantasie des Nachts kreuz und quer durch mein Zimmer jagten. Und tatsächlich, wenn man längere Zeit hinschaute, schienen sich die Augen auf dem Poster immer noch zu bewegen.
    Der Arzt trat ein. Er war älter, als ich ihn mir vorg estellt hatte, und er sah nervös aus.
    „Guten Morgen, Herr …“, begann er und streckte mir eine zittrige Hand hin, wobei er mich über seine Brille hinweg musterte.
    „ May“, sagte ich. Seine Hand war eiskalt und zitterte.
    „Schön, Herr … Dann wollen wir mal.“ Er runzelte die Stirn, als er vor dem Besteck stand, und rückte die einzelnen Werkzeuge zurecht, ehe er sein Stethoskop nahm und sich neben mich auf die Bahre setzte.
    „Atmen Sie jetzt bitte mal mit geöffnetem Mund tief ein und aus .“
    Das Stethoskop war genauso kalt wie seine Hände. Zuerst war der Rücken, dann meine Brust dran.
    „Und?“, fragte ich schließlich, als er aufstand und sich e twas notierte.
    „Ist nur eine Erkältung“, meinte er, „Grippewelle, Sie wissen ja. Sie können sich wieder anziehen, ich ve rschreibe Ihnen was zur Behandlung. Ein paar Tage Pflege und viel frische Luft, dann kommen Sie schon wieder auf die Beine.“
    „Ich bräuchte auch noch ne Krankmeldung wegen der Arbeit“, sagte ich.
    „Wie?“
    „Eine Krankmeldung.“
    „Ach so, ja“, meinte er. Wahrscheinlich war er in G edanken schon bei den nächsten hundert Patienten aus seinem Wartezimmer. Ich zog mich fertig an und trat hinter ihn, er kritzelte komischerweise auf einem normalen linierten Block herum. Überm Schreiben begann plötzlich wieder seine Hand zu zittern, mit der anderen packte er sein Handgelenk und versuchte, es ruhig zu halten.
    „Alles in Ordnung?“, fragte ich.
    Er gab keine Antwort, sondern starrte seine zuckende Rechte an.
    „Geht’s Ihnen

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