Liebe ohne Schuld
tatsächlich noch einmal. Diesmal hüpfte sie rückwärts zum Küchenschrank und streckte ihre gebundenen Hände nach dem Messer aus, das sie dort erspäht hatte.
Aber es war unerreichbar, obwohl es nur wenige Zentimeter waren, die sie von der Freiheit trennten. Voller Verzweiflung kämpfte sie gegen die Stricke, aber es war genauso sinnlos wie vorher. Als sie schon in Hoffnungslosigkeit versinken wollte, dachte Arielle an Burke, der bestimmt nicht so schnell aufgegeben hätte, und schon faßte sie wieder Mut. Als ihr Blick auf den armen Hannibal fiel, schwor sie, allen Gänsen, die genauso hilflos gefangen waren wie sie selbst, die Freiheit zu schenken, und dieser Entschluß gab ihr Kraft.
Irgendwo mußte einfach eine scharfe Kante sein! Während Arielle ihre Augen über das Chaos aus Essensresten und schmutzigem Geschirr schweifen ließ, wurde ihr klar, daß Dorcas offenbar die ganze Zeit über hier wie ein Tier vegetiert haben mußte. Vor Abscheu stellten sich Arielles Haare auf, und genau da fiel ihr Blick auf ein kleines Gemüsemesser, das zwischen einem Topf und einem Sieb auf einem Tisch lag. Am Schrank entlang hüpfte sie hinüber, bis sie schließlich keuchend den Tisch erreichte. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als sie das Messer endlich in der Hand hielt.
Während sie es mühsam hinter ihrem Rücken umdrehte, um mit der Schneide an den Strick zu kommen, schnitt sie sich zweimal leicht in den Arm. Doch schließlich war es geschafft. Wie eine Säge schnitt das Messer in das Seil, und bereits nach kurzer Zeit hatte Arielle den richtigen Rhythmus gefunden. Es war anstrengend, doch sie gab nicht auf und fühlte schließlich, wie der Strick nachgab.
In diesem Augenblick hörte sie Schritte, keine schlurfenden Schritte, sondern den festen, raschen Gang eines Mannes. Dann ertönte eine laute, energische Stimme auf dem Flur. Die Stimme eines Mannes. Wie gebannt blickte Arielle zur Tür.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
»So, so, und ich habe gedacht, daß die alte Frau mir Märchen erzählt hat! Hallo, mein liebes Mädchen!«
Arielle war nicht wirklich überrascht. »Etienne«, stammelte sie, weil sie ihre trockenen Lippen kaum bewegen konnte. Aus Furcht, daß er die durchschnittene Fessel entdecken könnte, hielt sie absolut still und hoffte, daß er ihr die innere Spannung nicht anmerkte.
»Kannst du mir verraten, was du da tust?«
»Nichts. Ich konnte nur nicht länger auf dem Boden liegen und immer das Blut riechen!«
»Das verstehe ich«, bemerkte Etienne lächelnd. Daß sie ganz offensichtlich Angst vor ihm hatte, gefiel ihm. Wochenlang hatte er zusammen mit Evan Pläne geschmiedet, wie er sie aus dieser Festung Ravensworth Abbey befreien könnte, und mehr als einmal hatten sie sich dabei sinnlos betrunken. Und ganz unverhofft lag sie plötzlich gefesselt und geknebelt in der Küche von Rendel Hall! Ein höchst unerwartetes Geschenk! Er lachte, während er die Arme vor der Brust verschränkte und sich gegen einen Tisch lehnte.
»Ich bin schon seit einigen Tagen hier, um ein Inventarverzeichnis aufzustellen. Ich möchte verschiedene Dinge mitnehmen, denn schließlich hat das Haus meinem Vater gehört. Das ist nur gerecht. Dein Halbbruder hat seine Pläne wohl endgültig aufgegeben. Ich habe ihn nie so wütend gesehen wie damals, als er mit geschwollener Nase nach Leslie Farm zurückgekommen ist. Dein Mann hat es ihm ja ordentlich gegeben!«
»Ich habe Evan auf die Nase geschlagen.«
Etienne war ehrlich verblüfft. »Du?« Und dann lachte er. »Bei allen Heiligen! Das ist ja herrlich. Nun, du hast Glück, daß du bei mir bist! Dein Bruder ist nämlich ganz und gar kein Gentleman!«
»Haben Sie Dorcas hierher gebracht?«
»Ich? Nein! Als ich herkam, entdeckte ich, daß sie hier lebte. Durch sie bin ich auf den Gedanken gekommen, daß du hier nach ihr suchen könntest. Dein netter Ehemann hat ja die ganze Gegend umkrempeln lassen! Also habe ich ihr erlaubt, hier in der Küche zu leben.« Etienne warf einen Blick auf die tote Gans. »Aha, das wird wohl unser Abendessen sein. Ich muß ihr sagen, daß sie die Tiere in Zukunft draußen schlachten soll. Dieser Gestank ist ja unerträglich!«
»Mein Mann wird bald nach mir suchen, Etienne. Lassen Sie mich frei und geben Sie mir Dorcas mit. Sie ist krank. Man muß sich um sie kümmern.«
»Was sind denn das für Töne? Etwa Mitleid? Mit dieser alten Hexe? Sie hat doch versucht, dich umzubringen, und dabei beinahe deinen Mann erstochen! Nein, mein Schatz,
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