Liebe Unbekannte (German Edition)
Voreingenommenheit geprägt. Da sie sich nun nicht entscheiden konnte, wählte sie den Weg der Vernunft.
„Gott bewahre, dass du das Studium abbrichst“, rief sie erschrocken. „Bist du verrückt geworden?“
Niemand hätte von Mutter so eine vehemente Meinungsäußerung erwartet. Vater hätte ein wenig Unterstützung gebrauchen können, aber Mutters Reaktion war zu weiblich und zu laut. Es war zu befürchten, dass es Onkel Lajos in der Küche gehört hatte, und von nun an den entgegengesetzten Standpunkt vertreten und sich auf Gerdas Seite schlagen würde. Also, dass ich das Studium abbrechen sollte.
„Irén, du hast die Vorgeschichte nicht gehört“, sagte Vater. „Darum geht es ja gerade. Tomi soll gar nichts abbrechen. Alle sagen das. Mit Ausnahme von Gerda.“
„Hm“, sagte Onkel Lajos, der Mutters weiblichen Ausruf tatsächlich gehört hatte und nun tatsächlich dazu neigte, Gerda recht zu geben. „Sprich in deinem eigenen Namen. Ich habe noch keine Stellung bezogen.“
„Versuchen wir uns in Patai hineinzuversetzen“, sagte Vater zu Onkel Lajos. „Er wird auch nicht jünger. Er wird wohl schon weit über das Renteneintrittsalter hinaus sein. Es wird wohl nicht seine Hauptsorge sein, Tamás’ Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er wird wohl vor allem nicht groß auffallen wollen.“
„Unterschätze ihn bloß nicht“, erwiderte Onkel Lajos. „Abwarten war schon immer seine Taktik. Es wäre typisch für ihn, an der Hochschule nicht großartig aufzufallen und gleichzeitig im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Auf lange Sicht ist es immer noch nicht ausgeschlossen, dass er der Sieger sein wird.“
„Patai? Auf lange Sicht? Komm schon, Lajos.“
„Du warst schon immer geneigt, diese Generation zu unterschätzen. Das ist ein schwerwiegender Fehler in deinem Denken. Patai darf man nicht abschreiben. In der nahen Zukunft sind ernsthafte Veränderungen zu erwarten, auf Regierungsebene auf jeden Fall, vielleicht sogar auf Parteiebene …“
Nun trat Gerda offen als Onkel Lajos’ Verbündete auf. Bis dahin hatte sie mir signalisiert, sie stehe auf meiner Seite, ich solle mir keine Sorgen machen, sie würde mir schon helfen, nur sollten wir zunächst die Alten ausreden lassen. Und jetzt sagte sie plötzlich:
„Vater, Onkel Lajos hat recht. Wie immer.“ Sie wollte Onkel Lajos schmeicheln, fügte dann, um glaubwürdiger zu klingen, stichelnd hinzu:
„Oder zumindest fast immer.“
Sie konnte sich das leisten, ihr nahm Onkel Lajos nie etwas übel.
„Na hör mal, Gerda, was heißt hier,
fast immer
?“, fragte er mit einem Lächeln und rief dann in die Küche: „Wann kommt denn die Bohnensuppe?“
„Sie kommt schon“, antwortete Tante Judit. „Sie kommt gleich.“
„Vater, das darf man jetzt wirklich nicht auf die leichte Schulter nehmen“, fuhr Gerda listig fort. „Patai könnte Tamás’ Zukunft mit einem Schlag ruinieren.“
Tante Judit kam heraus, aber entgegen unserer Erwartungen brachte sie nicht die Suppe, sondern hielt eine Gießkanne in der Hand. Sie hielt diesen Moment für geeignet, um die Pflanzen zu gießen. Übrigens mit Recht, denn laut Fachmeinungen ist die Abenddämmerung der beste Zeitpunkt dafür.
„Oder deine, liebe Gerda“, sagte sie. „Wer weiß, was für Verbindungen er zur Filmfabrik hat. Vielleicht hat sogar Kendefi schon etwas über dich gehört. Sonst wäre ihm dein Lippenstift aufgefallen. Schwule bemerken so etwas immer.“
„Lass sie ausreden und setz dich endlich.“
„Ich lasse sie doch. Ich gieße nur schnell die Pflanzen, die Armen sind ja schon ganz verdurstet.“
Sie goss die Pflanzen. Onkel Lajos winkte ab.
„Das ist die Erbsencremesuppe mit gebratenem Speck, nehmt euch doch, sonst wird sie noch kalt“, sagte er und ging in die Küche, um die Bohnensuppe zu holen.
Ich warf Gerda einen fragenden Blick zu, was dieser Gesinnungswandel sollte, woraufhin sie mir bedeutete, ich solle mich nicht einmischen, sie wisse schon, was sie mache. Vor Onkel Lajos hatte sie mich noch nie derart gelobt.
„Tamás ist außerordentlich begabt“, sagte sie. „Er muss an die Universität. Eine schäbige Hochschule ist nichts für ihn. Und um seine Ziele zu erreichen, wird er …“
„Was sind denn Tomis Ziele?“, fragte Tante Judit. „Was sind deine Ziele, Tomilein, erzähl mal. Du hast also Ziele? Sag bloß. Das kann ich nicht glauben. Komm, gib zu, Tomi, dass du dich nur so treiben lässt.“
Wer sich treiben lässt, ist schwach. Aufs Treiben war sie
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