Liebe Unbekannte (German Edition)
fällig, ja, überfällig. So würde ich wenigstens später erzählen können, das auch versucht zu haben. Ich hatte mich einmal gegen meine Familie aufgelehnt, bitte schön, auch das war nun abgehakt. Ich hatte es auf eine leichte, schnelle, bequeme Art erledigt. Na ja, es war mir nicht gelungen, so war es eben, ich hatte nicht mehr zu bieten. Als Kind hatte ich mich nicht bewährt. Als Jugendlicher hatte ich mich auch nicht bewährt, dann sollte eben nun die Zeit des jungen Mannes kommen. Es war ohnehin egal, irgendwie würde ich es schon hinter mich bringen. Es gibt die
Große Geschichte
, das hatte sich heute wieder bewiesen, für mich gab es jedoch keine Chance, an ihr teilzuhaben. Da floss die Donau, ein hoffnungsloser, grauer Strom, von dem ich schon wieder seit einer Weile jede Nacht träumte, er ergriff mich, schleppte mich fort, riss mich heraus aus der Welt. Mein Spott gestaltete sich jedoch lauter und auch hässlicher als geplant. Ich brüllte beinah.
Gerda sah mich erschrocken an, bedeutete mir, mich zu beruhigen, es werde schon alles in Ordnung kommen, ich solle mich nicht so aufregen, wir würden die Angelegenheit später besprechen.
Onkel Lajos grinste überlegen, aber ich sah, wie er verstohlen zu Vater blickte: Wie sei das denn zu verstehen?
Vater bedeutete ihm mit einem Blick, dass es keinen Grund zur Panik gäbe, man müsse den Jungen einfach in Ruhe lassen, er werde sich schon wieder beruhigen.
Tante Judit hielt vor Schreck die Hand vor den Mund.
Mutter strich mir heimlich über den Rücken. Vom Tisch aus war diese Geste nicht zu sehen, nur vom Gellért-Berg aus, mit Fernrohr.
„Ich meine, für die Familie!“, sagte ich rasch, weil ich spürte, dass ich in meiner Wut missverständlich formuliert hatte: Wenn ich mich anzünden würde, würde ich mich nicht für die Familie rächen, sondern an der Familie. Bleiben wir sachlich.
„Und nicht an der Familie!“, fügte ich hinzu, um wirklich jedes Missverständnis aus dem Weg zu räumen.
In diesem Moment musste ich plötzlich lachen. Denn mir fiel ein, dass meine furchtbare Rache ihr Opfer nicht mit einem Mal, sondern genau auf diese Art treffen würde. Ich würde sie ständig verbessern, an ihr feilen, Teile streichen. Damit es eine perfekte Rache würde.
Meine Wut war verflogen. Sie taten mir leid, weil ich der letzte männliche Abkömmling war, der letzte goldene Zweig der Familie; ein goldener Zweig, der über sich lachte. Dabei würde ich von ihnen die Welt erben (abgesehen von der Mitgift der Mädchen), da ich der Junge war, und die Familie traditionell dachte. Also würde ich früher oder später der Herrscher der Welt sein.
„Wieso grinst du denn so?“, fragte Onkel Lajos.
Ich sagte nichts vom lachenden goldenen Zweig. Ich strich lieber Mutter über die Hand.
Ich spürte, dass im Grinsen meine einzige Chance lag, die Welt auf die richtige Weise zu regieren. Indem ich stets würde lachen können, wenn es hart auf hart käme. Auch jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen in meinen Laptop, denke ich so, denn zum Glück gibt es die Welt noch, und
Laptop
ist der Name eines existierenden Gegenstandes, der damals noch nicht existierte und der bald, vielleicht noch zu meinen Lebzeiten, aus der Welt verschwinden und seinen Platz anderen, noch zeitgemäßeren Gegenständen überlassen wird. Denn die Menschheit dreht und dreht sich in einem unglaublichen Tempo, ohne Unterbrechung, in einer Spirale um ihr eigenes Gehirn, bis sie irgendwann ganz und gar durchdrehen wird.
Darüber sagte ich auch nichts zu Onkel Lajos. Es sollten ohnehin noch Jahrzehnte vergehen, bis ich so dachte.
„Onkel Lajos, ich werde mich für die Familie rächen“, hörte ich meine eigene Stimme sagen. „Ich verspreche es. Nein, ich schwöre!“
Alle waren überrascht, ich jedoch am meisten: Eigentlich hatte ich nichts mehr sagen wollen. Gewiss, ich hatte meinen Spott und mein Gebrüll wiedergutmachten wollen, aber damit hatte ich nicht gerechnet. Der Schwur war irgendwie aus mir hervorgebrochen.
„So wahr mir Gott helfe“, fügte ich die Formel hinzu, die ich in Romanen des vergangenen Jahrhunderts gelesen und auf einigen Hochzeiten gehört hatte. Wenn ich schon einen Schwur leistete, dann sollte es ein vollkommener sein.
Das hatte niemand erwartet. Zur falschen Zeit, auf die falsche Art, aber ein echter Schwur. Alle verfügten über so viel Geistesgegenwart, nichts zu sagen. Es fiel kein Wort über meinen Schwur. Sie taten, als hätten sie gar nichts gehört,
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