Liebe Unbekannte (German Edition)
gesetzt, Tomi müsse sein Studium wegen so einer lausigen Kanaille abbrechen“, sagte Onkel Lajos abschließend. „Wir versuchen, ihn davon abzubringen. Aber er ist ja so ein Sturkopf. Und wer sich jetzt nicht äußert, welche Suppe er möchte, bekommt gar nichts.“
Vater wollte auf elegante Weise den Rückzug antreten.
„Hör zu, Lajos“, sagte er mit versöhnlicher Stimme. „Lass uns nicht streiten. Ich habe nicht gesagt, dass er das Studium abbrechen soll, ganz im Gegenteil. Du hast wegen Patai vier Jahre lang gesessen, nicht ich. Du willst bei seiner Beerdigung anwesend sein. Wenn du sagst, das sei alles kein Problem, Tomi solle ruhig seine Vorlesung besuchen und versuchen, bei ihm seine Prüfung zu machen … dann ist ja gut, dann muss er das Studium ja nicht abbrechen.“
„Vater, ich habe schon immer gesagt, dass Tomi nicht an eine Hochschule gehört“, warf Gerda ein, weil sie beschlossen hatte, Vater zu einer konkreten Stellungnahme zu bringen, um Onkel Lajos dadurch auf ihre Seite zu bekommen.
„Wieso denn, Gerda? Er ist doch ein begabter Junge“, sagte Tante Judit. „Oder etwa nicht?“, wandte sie sich an mich, mit aufrichtiger Überraschung in der Stimme, ganz so, als habe sie gerade etwas Unerwartetes und Erfreuliches erfahren.
„Er könnte zum Beispiel ein Jahr aussetzen. Und währenddessen versuchen, an der geisteswissenschaftlichen Fakultät angenommen zu werden. Vielleicht sogar in Szeged. Was meinst du, Tamás?“
Ich wollte gerne an der Hochschule bleiben. Und das am meisten wegen Patai. Ich war sehr neugierig auf ihn.
Da läutete es. Wir standen wieder alle auf und strömten in die Wohnung.
„Na, was habe ich gesagt?“, sagte Onkel Lajos triumphierend, denn er hatte mich ja tatsächlich gebeten, den Tisch für sechs Personen zu decken.
In der Tür stand Mutter mit kreidebleichem Gesicht. In der vergangenen Stunde hatte sie gedacht, die Stunde der Wahrheit sei gekommen und Vater sei verschwunden. Sie hatte schon immer befürchtet, Vater würde eines Tages von zu Hause weggehen, so wie man sich das klassisch vorstellt: Er würde eines Tages nur kurz Zigaretten holen gehen, und wir würden ihn nie wiedersehen. Sie konnte sich jedoch auch eine andere Art von Flucht vorstellen, zum Beispiel, dass Vater in der Telefonzelle zusammenbrach und starb. Sie sah Vater oft tot.
„Ich habe ja so einen Schreck bekommen“, erzählte sie, nachdem sie die erste Freude darüber, dass Vater lebte, überwunden hatte, „als ich bemerkte, dass das Tor abgeschlossen war. Dabei hättest du ja ohne Weiteres sonst wohin gegangen sein können, nicht wahr? Ich habe trotzdem einen Schreck bekommen, ich weiß gar nicht weshalb.“
„Darüber wundere ich mich kein bisschen, meine liebe Irén“, sagte Tante Judit. „Bei dem Zustand, in dem dein Mann gerade ist, wäre ich auch nicht überrascht, wenn er hier am Tisch einen Herzinfarkt bekommen würde. Jetzt, wo Patai Tomi auf dem Kieker hat …“
„Sei still“, schnitt Onkel Lajos ihr das Wort ab. Es gab in der Familie eine stillschweigende Übereinkunft darüber, dass Mutters Nerven nicht strapaziert werden durften. Sie musste geschont werden. Das hieß, man musste möglichst viel vor ihr verheimlichen. Onkel Lajos deutete inzwischen Tante Judit an, sie sollten in die Küche gehen, um die Suppen zu holen. Sie ließen uns taktvoll im engeren Familienkreis.
„Mein Gott“, sagte Mutter erstaunlich ruhig. „Patai?“
„Er hat mich gar nicht auf dem Kieker“, erwiderte ich schnell. „Es ist alles in Ordnung.“
„Patai ist an der Hochschule“, erklärte Gerda, „und nun kam der Gedanke auf, was wäre, wenn Tomi das als Anlass nehmen würde, dieses Studium tatsächlich abzubrechen.“
Vater schniefte wütend. Er verstand nicht, weshalb Gerda diese Sache forcierte.
Da Mutter damals vor ihrer eigenen Aufnahmeprüfung geflohen war, war sie der Meinung, man dürfe niemals vor etwas fliehen. Da sie sich statt der Universität mit der Hochschule für Heilpädagogik zufriedengegeben hatte, hatte sie aber noch eine andere Meinung: Man darf sich nie mit dem Schlechteren zufriedengeben. Ihre Meinung über mich war, dass geniale Fähigkeiten in mir schlummerten. Und über Patai, den sie noch nie getroffen hatte, hatte sie bereits seit Langem die Meinung, dass es ihn gar nicht gab. Er einfach nicht existierte. Ihre Meinungen hielt sie geheim, sogar vor sich selbst, dabei waren alle diese Gedanken berechtigt, wenn auch von ein bisschen mütterlicher
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