Liebe Unbekannte (German Edition)
sicherlich wegen der Donau gekommen, sie hatte damit jedoch eine schlimme Charakterschwäche von mir angesprochen.
„Wie meinst du das?“, fragte Vater. „Natürlich hat er Ziele.“
„Ach so, hat er? Dann ist es ja etwas anderes, Tomilein. Wenn du dich nicht nur treiben lässt, ja, das ist etwas ganz anderes.“
Mutter verfügte über keine Mittel, die Diskussion in eine sinnvolle Entscheidung münden zu lassen. Das Einzige, was sie tun konnte, war zu versuchen, das Thema zu wechseln. Um der Sache mehr Gewicht zu verleihen, stand sie auf und stellte sich in einer lockeren Haltung ans Balkongeländer.
„Es ist so schön hier. Die Burg schaut aus, als wäre sie ein Urtier, das aus der Donau trinkt. Meinst du nicht, Judit? Habt ihr noch nie daran denken müssen? Ich weiß nicht weshalb, aber ich muss immer daran denken, wenn ich hier stehe.“
„Himmelherrgott nochmal, bedient sich endlich jemand von der Suppe?“, fragte Onkel Lajos und stellte nun die Bohnensuppe auf den Tisch.
„Stell dir vor, Lajos, inzwischen hat sich herausgestellt, dass Tomilein angeblich Ziele hat. Er lässt sich nicht einfach so treiben. Denn Onkel Lajos sagt immer, Tomilein, du lässt dich im Leben gerne treiben, wie der Held eines modernen ungarischen Films.“
„Sieh mich nicht an, Judit“, sagte Gerda lachend. „Unser Film ist eine internationale Koproduktion.“
„Wie kannst du bloß so etwas sagen?“, wollte Mutter eigentlich fragen, aber aus Versehen sprach sie aus, was sie dachte: Es sei ja nicht schlecht, sich treiben zu lassen. Beim Betrachten der Donau war ihr nämlich genau der Gedanke gekommen, also sagte sie:
„Und warum ist das so schlimm, Judit? In dem Alter ist das noch nicht schlimm. Im Gegenteil, es ist ganz natürlich.“
Es wurden Protestlaute hörbar. Denn am Tisch saßen moderne Menschen, die gelernt hatten, dass man sein Schicksal selbst in der Hand hielt. Und sich treiben zu lassen, führe unweigerlich zum Scheitern. Selbst ich war nervös geworden, als Tante Judit aufs Treibenlassen zu sprechen kam, denn zu dieser Zeit war ich bereits auch schon ein mehr oder weniger moderner Mensch.
„Irén, er ist erwachsen“, sagte Vater. „Er muss Verantwortung übernehmen.“
„Für wen?“, fragte Mutter.
„In erster Linie für sich selbst“, antwortete Vater, was auch stimmte.
„Dann soll er Historiker werden“, erwiderte Mutter. „Er würde gerne Historiker werden.“
„Er will“, berichtigte Gerda sie. „Nein, er wird!“
„Was sind deine Ziele, Tomilein, mein Herz?“
„Wir sollten vielleicht den Betroffenen anhören“, schlug Onkel Lajos vor. „Oh, Tamás, verrate uns: Was sind deine Ziele?“
Vater machte eine (wegwischende) Handbewegung in meine Richtung, als wäre ich gar nicht da, denn er vertraute mir nicht. Er sah mir an, dass ich inzwischen ziemlich genervt war. Und er befürchtete, ich würde vor Wut vor allen sagen, dass ich keine Ziele hatte. Dass also die Leere in mir hauste. Die andere Möglichkeit war noch schlimmer, nämlich, dass mich gerade jetzt eine Welle der spätpubertären Auflehnung überkommen und ich fragen würde: „Und, was hast du so für Ziele, Onkel Lajos?“
Ich wollte glücklich sein. Das war mein Ziel. Aber das konnte ich gegenüber Onkel Lajos, der weise, zynisch und weltgewandt war, schlecht sagen. Er hätte mich ausgelacht. Ich sprang auf und stellte mich neben Mutter ans Geländer und betrachtete die Burg. Der Burgberg, mit Burgviertel und Schloss, sah tatsächlich so aus, als würde ein Urtier aus der Donau trinken.
„Na ja … Mich treiben zu lassen“, sagte ich, indem ich mich zu den anderen umwandte. „Natürlich ziellos“, fügte ich hinzu, damit kein Zweifel bestand, dass ich nun einen frechen Ton angeschlagen hatte. „Oder sollte ich mich vorm Parlament anzünden?“
„Du bist blöd, mein lieber Sohn“, sagte Vater mit einem Lächeln.
„Sei du bloß still, du hast in dem Alter nämlich sehr ähnlichen Schwachsinn von dir gegeben“, sagte Onkel Lajos und wandte sich dann mit spöttischer Miene an mich. „Ich verstehe. Und was würdest du dadurch lösen, wenn die Frage gestattet ist?“
„Na ja, ich würde Rache üben“, sagte ich und zuckte wütend mit den Schultern. „Eine grauenvolle Rache. Eine gnadenlose, fürchterliche Rache!“
Eigentlich sollte das nur eine vorsichtige Spöttelei werden. Ich dachte mir, so könnte ich wenigstens meine pubertäre Revolte hinter mich bringen, diese war sowieso schon seit Jahren
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