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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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ihr bisher aufgehalst habe, schrieb nun, Kornél sei tatsächlich Anarchist. Obgleich sie das sonst in so einer Situation nie tat, ergriff sie nun das Wort.
    „Kornél, wenn du mir eine kurze Bemerkung erlaubst … Kinder, ich will auf keinen Fall behaupten, dass der Herr Lehrer die Sache nicht wunderschön skizziert habe, dennoch muss ich seine Worte an dieser Stelle ergänzen: Die häufige Verwendung des Wortes
beschissen
kann auch dann kein Ersatz für die Dialektik sein, wenn das Thema an sich diese Wortwahl legitimiert.“
    „Aber mein Materialismus ist doch tadellos?“, fragte Kornél frech.
    „Ich würde das eher als Idealismus bezeichnen“, sagte Rózsa Hofmann mit einem Lächeln. „Oder als Anarchismus?“
    „Nun“, sagte er zunächst überrascht, doch dann musste er grinsen, „ich glaube, Sie haben recht. Ich bin aufgeflogen. Meine Damen und Herren. Ich empfehle mich.“
    So verabschiedete sich Kornél mit einer leichten Verbeugung von der Laufbahn als Geschichtslehrer und verließ den Klassenraum. Es war wunderschön, makellos. Wenn Gábor nicht solch großen Respekt vor Rózsa Hofmann gehabt hätte, wäre er aufgesprungen und ihm hinterhergerannt. Aber er mochte und respektierte sie, außerdem war es auch nicht sofort ganz klar, was geschehen war. Vielleicht war Kornél ja gar kein Anarchist, sondern hatte nur Durchfall. Als Gábor, die Klasse und Rózsa Hofmann begriffen, dass er nicht zurückkommen würde, war Kornél schon weit weg. Gábor hatte einige Mühe gehabt, ihn zu finden, doch dann legte er ihm sein Leben zu Füßen. Und sagte, er würde auch kein Abitur machen. Aus Solidarität. Kornél dachte zuerst, er höre nicht richtig, dann bat er Gábor, das nicht zu tun. Gábors Angebot machte ihn wütend, da es ihm noch deutlicher vor Augen führte, was für einen Blödsinn er gemacht hatte. Davon abgesehen freute er sich sehr über Gábor.
    „Ich dachte“, sagte er anerkennend, „diese Tierart sei schon längst ausgestorben.“
    „Meinen Sie mich?“, fragte Gábor, leicht verunsichert.
    „Genau deshalb steht es so um dieses Land“, sagte Kornél nachdenklich, zündete sich stilvoll eine Zigarette an und blies den Rauch aus, bevor er den Satz beendete. „Wegen solcher autoritätsgläubiger, siezender Deppen.“
    Gábor hatte damals nur vage Vorstellungen von Anarchisten. Er war jedoch davon überzeugt, ein Anarchist sei jemand, der entweder etwas sehr wolle oder das Nichts sehr wolle. Und ihm war beides recht, vor allem die erste Version.
    Dann gingen sie gemeinsam in eine Kneipe, und Kornél erklärte Gábor die Beweggründe für seine Entscheidung. In ihm sei ganz einfach eine Erkenntnis gereift:
Die
werde er nicht in Geschichte unterrichten. (Unter
die
verstand er das kommunistische Pack.) Aber nein, er sei kein Anarchist, das solle sich Gábor schön aus dem Kopf schlagen. Er solle in die Schule zurückgehen und bei Rózsa Hofmann sein Abitur machen, die eine zauberhafte Frau sei und in ihrer langen Laufbahn aus aufrichtiger Begeisterung heraus Tausenden von Gymnasiasten Lügen erzählt habe.
    So erfuhr Gábor, dass die Welt doch nicht ganz beschissen war.
    Und so beschloss Kornél endgültig, kurz vorm Diplom das Studium zu schmeißen. Denn inzwischen hatte er es sich schon fast anders überlegt: Er hatte daran gedacht, aus Rücksicht auf seine Eltern das Studium doch abzuschließen, außerdem wollte er sich von jeglichem theatralischen Blödsinn verabschieden und vor allem nicht mehr mit dem Anarchismus liebäugeln. Es war ihm jedoch unmöglich, Gábor in sein leuchtendes Gesicht zu sagen, das Ganze sei storniert. Und wenn er es schon einmal nicht gesagt hatte, wollte er auch später nicht um Wiederaufnahme an der Uni betteln. Die Würfel waren gefallen.
    Gábor hatte hier, im hinteren Treppenhaus, keine Zeit, über Kornéls Verrat zu grübeln. Er hatte zu tun.
    Einige Minuten später betrat ich das Zeitschriftenarchiv und fand Gábor dort allein. Er saß am Tisch des Zeitschriftenarchivars und las mit dem ganzen Kopf, als würde er ununterbrochen verneinen. Eine halbe Stunde zuvor, als ich zur Arbeit gekommen war, hatte ich ihn auf dem Hof, ohne Mantel, wie einen Frosch herumspringen sehen. Ein weiterer Verrückter in der Bibliothek, dachte ich. Ich kannte ihn bereits vom Sehen: Er eilte stets mit entschlossenen Schritten irgendwohin. Besser gesagt, rannte. Eine halbe Minute später rannte er, noch entschlossener, in die entgegengesetzte Richtung. Und jetzt las er hier im

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