Liebe Unbekannte (German Edition)
völlig egal?“
Gábor entdeckte seine Aufgabe in der Situation.
„Ich werde heute Nachmittag für sie einspringen. Ich bespreche es gleich mit Tante Giz…, egal“, unterbrach er sich selbst, da er keine Lust hatte zu erklären, mit wem er, Gábor, besprechen würde, dass er für Emőke Széles einspringen wolle. „Und du geh zu ihr, sei bei ihr.“
„Das werde ich sehen“, sagte Kornél. „Keine Angst, ich überlege mir schon, was ich zu tun habe.“
Denn es mag zwar geschehen sein, was geschehen war, trotzdem sollte ihm nicht Gábor vorschreiben, was er nun zu tun hatte.
„Du hättest es mir erzählen können.“
„Hätte ich, wirklich. Wenn ich es nicht auch gerade erst erfahren hätte.“
„Deshalb bist du nicht mit ihr ins Krankenhaus gegangen?“
„Deshalb“, sagte Kornél.
„Aber du hättest sie begleitet, wenn du es gewusst hättest, stimmt’s?“
Kornél machte mit der Hand eine ungeduldige Geste.
„Ja, klar“, sagte er dann doch, um Gábors Frage nicht unbeantwortet zu lassen.
„Dann ist ja gut. Denn ich habe mir Sorgen gemacht.“
„Wieso?“
„Ich habe befürchtet“, gestand Gábor, „ihr würdet am Ende nicht fähig dazu sein.“
„Doch, wir waren dazu fähig!“, erwiderte Kornél barsch, denn er war von schlechtem Gewissen geplagt und spürte, dass von Gábor die unterschiedlichsten Vorwürfe auf ihn zuströmten. „Jetzt ist wohl das das Problem, hm? Ja, so sieht es aus. Allen Anzeichen nach waren wir dazu fähig! So ist es, mein lieber Gábor. Wir sind genauso ein Stück Scheiße wie alle anderen. Auch du, mein Freund. Guck nicht so.“
„Ich gucke wie ich will. Das geht dich nichts an.“
„Dann zieh Leine und guck woanders.“
Und Gábor zog Leine, ließ Kornél auf dem Gang der Korvin Bibliothek stehen. In ihm hallten seine letzen Sätze nach, die grammatikalisch und logisch gesehen einwandfrei gewesen waren und, in Anbetracht von Kornéls Lage, auch psychisch gesehen. Aus Gábors Sicht stellten sie jedoch einen Verrat dar, denn Gábor Kender war gerade dadurch zu Gábor Kender geworden, dass man ihm rechtzeitig in den Kopf gehämmert hatte, dass die Welt nicht beschissen war. Die Welt war die Welt, aber nicht beschissen. Und das hatte ihm gerade Kornél in den Kopf gehämmert.
Das Ganze begann, als Gábor mit siebzehn Jahren, ausgehend von einigen frühen Lektüren und dem Lied
Paranoid
von
Black Sabbath
, plötzlich klar wurde, dass die Welt beschissen war. Er hatte das Gefühl, er habe nun endlich festen Boden unter den Füßen, und die Dinge in seinem Kopf seien an den richtigen Platz gerückt. Nun sei er auch geistig zu einem Mann herangereift. Damals begann er Bücher zu verschlingen und bald war er dahintergekommen, dass jeder ernst zu nehmende Denker die Meinung verfocht, die Welt sei beschissen. Gábor fühlte sich auf einmal dazu berufen, der Prophet der Beschissenheit der Welt zu werden und machte sich sogleich an die Arbeit. Hochtönend verkündete er, die Welt sei beschissen, und er sah, dass das gut war. Denn er verschaffte sich dadurch zunehmend Respekt. Er hatte bereits mehrere Anhänger unter den Schülern der unteren Klassen, als ein angehender Lehrer, der sein Praktikum an dem Gymnasium machte, und in seinem Unterricht den Anarchisten Jenő Henrik Schmitt zitierte (und von den Mädchen wegen seiner Ähnlichkeit mit einem schönen französischen Schauspieler
Dölon
genannt wurde), erklärte, dass die klügsten Köpfe seit ungefähr dreihundert Jahren, aber auf jeden Fall seit der Aufklärung, von der Welt behaupteten, sie sei beschissen. Dabei sehe es mittlerweile anders aus, sagte Kornél, man habe es bereits so oft gesagt, dass jeder um die Beschissenheit der Welt wisse, das sei nichts Neues mehr, nun müsse man all das nicht Beschissene an ihr zusammentragen. Solange es nicht zu spät sei. Kornél selbst wusste zwar, dass er die Dinge ein wenig vereinfachte, aber Gábors Weltanschauung hatten gerade diese paar Sätze gefehlt. Daran änderte es auch nichts, dass Kornél gegen Ende der Stunde, direkt an Gábor adressiert, hinzufügte, dass dies nicht bedeute, die Welt sei nicht durch und durch beschissen. Dieser Satz beeinflusste Gábors Weltanschauung nicht mehr, sondern war der Beginn ihrer Freundschaft. Und Rózsa Hofmann, Budapests angesehenste Geschichtslehrerin, die mit Sphinxmiene in der letzten Reihe saß, sich Notizen machte und bis zu Kornéls letztem Satz gedacht hatte, dies sei der talentierteste Nachwuchslehrer, den man
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