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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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völlig recht. Er erwartete, Lob zu ernten, etwa in Form eines sanften, aber anerkennenden Kopfschüttelns: Du hast sie wohl nicht mehr alle … Kornél sprang ihm jedoch beinah an die Kehle:
    „Du hast sie wohl nicht mehr alle!“, brüllte er. „Außerdem bin ich kein Anarchist, schlag dir diesen Schwachsinn endlich aus dem Kopf!“
    „Sicher?“, fragte Gábor traurig.
    Und auf einmal war er der Einzige, der Kornél geblieben war, da dieser sich in den folgenden Wochen mit allen zerstritt, weil ihn alle für verrückt hielten und er wusste, dass alle recht hatten, es war, als hätten sie sich gegen ihn verschworen. Er wusste auch, dass er den größten Bock seines Lebens geschossen hatte, aber auch, dass er es niemals zugeben würde. Er kannte sich. Er würde es nur irgendwann viel später einmal zugeben, wenn es bereits ganz sicher sei, dass er eine Berufung habe und er nicht nur ein fauler, hohlköpfiger Hochstapler sei. Denn das war seine größte Angst. Wenn sich herausstellen würde, dass er eine Berufung habe und vielleicht sogar, was diese sei, würde er sich unter Umständen erlauben können, lächelnd den einen oder anderen Fehler von früher einzugestehen. Bis dahin brauchte er jedoch Kraft.
    Er zog von zu Hause aus, wohnte mit Gábor zusammen zur Untermiete. Gábor war Hilfsarbeiter in einem Krankenhaus und las enorm viel, um Kornél einzuholen. Kornél verkaufte Zeitungen an einem Stand auf dem Ring. Das Zimmer, das sie mieteten, war ein dunkles Loch. Wenn sie gleichzeitig zu Hause waren, hatten sie kaum Platz. In mancher Mondnacht zogen sie mit zwei Flaschen Apfelwein in den Káler Wald, setzten sich auf einen großen Felsen, den sie selbstironisch
Stein der Weisen
getauft hatten und brüllten los. Sie stiegen auf den
Stein der Weisen
und brüllten verzweifelt ins Dunkel des Waldes.
    „Fels der Idioten“, lautete die Umbenennung durch Tímea Hettesi, die in Gábors Parallelklasse gegangen war und später Mutter seiner Kinder werden sollte. Jetzt drohte sie jedoch gerade damit, ihn zu verlassen, wenn er auf dieses furchtbar steile Ding Kornél hinterher klettern würde. Gábor kletterte hinauf, und Tímea stapfte in ihrer ohnmächtigen Wut allein in den Káler Wald. Gábor und Kornél liefen auf der Suche nach ihr die ganze Nacht zwischen den Bäumen umher, riefen nach ihr, ihre Spur verlor sich jedoch für viele Jahre.
    „Aber wer bin ich?“, fragte Gábor, während sie durch den Wald liefen. „Sag mir, wer zum Teufel ich bin.“
    Was gleichzeitig bedeutete, dass er, im Gegensatz zu Kornél, zumindest davon eine ungefähre Ahnung hatte, wer dieser war. Kornéls Berufung bestand darin, allmählich zu Mitteleuropas lebendem Gewissen zu werden. Zu dieser Zeit wusste jedoch selbst Mitteleuropa noch nicht, ob es eine Berufung habe, von Kornél Hajnal ganz zu schweigen. Mitteleuropa wurde damals durch eine technisch-militärische Grenze, den berühmten
Eisernen Vorhang
, geteilt. Die eine Seite von Mitteleuropa nannte man Osteuropa und die andere einfach Europa. Und Kornél war Zeitungsverkäufer auf dem St. Johannes-Ring in Osteuropa.
    Er interessierte sich für Politik, war jedoch nicht naiv: Er wusste sehr wohl, dass sich in diesem Land in den folgenden fünfzig Jahren nichts ändern würde. Vor allem nicht die Politik. Er dachte also zu Recht, es lohne sich, ein ganzes Leben für den Kampf um die Freiheit zu opfern, man würde nicht noch einen anderen Beruf erlernen müssen, auf das Zeitalter der Sklaverei sei Verlass, es würde andauern. Noch vom Studium kannte er sogenannte
Andersdenkende
und wurde auch deshalb am Rand von Újlipótváros Zeitungsverkäufer, weil in dieser Gegend immer schon mehr politisch denkende Menschen verkehrten als in anderen Teilen der Stadt. Manche unter ihnen unterhielten sich auch hin und wieder mit dem klugen Zeitungsverkäufer, dessen Gesicht ihnen bekannt vorkommen mochte: Kornél war als Student auf jede Veranstaltung gegangen, wo etwas hätte passieren können. Aber jetzt als Zeitungsverkäufer drängte er sich diesen Leuten nicht auf, die hatten so schon genug Probleme, vor allem nicht, nachdem einige Male suspekte Kerle bei ihm aufgetaucht waren, die sich mit ihm darüber unterhalten wollten, was für Leute denn die Zeitung bei ihm kauften. Es gebe viele verschiedene Menschen, erwiderte Kornél und damit war das Gespräch beendet. Die andere Möglichkeit wäre gewesen, Filmregisseur zu werden.
    Kurz gesagt, wenn jemand zu Kornél gesagt hätte, er werde

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