Liebe Unbekannte (German Edition)
Zeitschriftenarchiv und fingerte an der Nelke, die auf dem Tisch in einem leeren Becher saurer Sahne stand.
„Was wollen Sie hier, Soldat?“, fuhr er mich an. „Wen suchen Sie?“
„Wie bitte?“
„Wen suchen Sie?“
„Niemanden. Ich habe nur vorbeigeschaut.“
„Sie gehen nirgendwohin. Wir beobachten Sie nämlich.“
„Na dann“, sagte ich und wollte mich aus dem Staub machen.
Ich dachte, er sage die Wahrheit: Ich würde beobachtet. Es hatte sich also herausgestellt, dass ich doch nicht unsichtbar war. Ich bekam Angst, denn offenbar hatte ich einen Fehler begangen. Am vergangenen Vormittag hatte ich am Weinplatz des weinenden Mädchens auf dem Boden einige mit Maschine getippte Gedanken über den
übermenschlichen Menschen
liegen lassen. Dieses Blatt war nun verschwunden. Ich hatte nur mein Monogramm daruntergeschrieben, nicht den ganzen Namen, man würde mich also nur bis Nietzsche zurückverfolgen können und die Spur dort verlieren, trotzdem war es kein gutes Gefühl zu wissen, dass mein Herumlungern beobachtet worden war, dass die Bibliothek die ganze Zeit ein Auge auf mich gehabt hatte.
„Warte, he! Wen suchst du? Die Széles? Das bin nämlich ich. Zumindest im Augenblick!“
„Ich suche nicht dich“, sagte ich etwas wütend. „Das wüsste ich.“
Er holte ein Bajonett hervor. Ich hielt inne. Er würde mich nicht erstechen, schoss es mir ganz richtig durch den Kopf, und würde er sich prügeln wollen, hätte er das Messer nicht hervorgeholt. Ich erschrak also nicht. Dennoch muss es an meinem Verhalten etwas gegeben haben, woraus er darauf schloss, dass ich panikartig die Flucht ergreifen wolle.
„Du hast Schiss, was, Schulterglatze?“, sagte er grinsend. „Hau doch nicht gleich ab. Es ist verdammt gut, dass du dich endlich hier blicken lässt. Komm, ich zeige dir etwas. Schau dir das an.“
Er schob mir die Zeitschrift vor die Nase, in der das Bild nicht zu sehen war, da es von einem eingeklebten Blatt Papier verdeckt wurde. Auf dem Blatt stand:
Hier ruht
John Torrington
Heizer des Schoners Terror
Leser, störe seinen Frieden nicht, wenn dir deiner lieb ist
.
„Klappe es auf“, sagte er. „Und gib jede Hoffnung auf.“
Ich klappte das Leichentuch auf und erblickte mich darunter. Eine junge Leiche im offenen Sarg. Ein junger Mann, der mit großen Plänen, großen Träumen zur Expedition aufgebrochen und im Nordpoleis erfroren war.
„Das ist der Hammer, nicht?“, fragte Gábor. „So sorgfältig kann nur eine Frau sein. Sie hat es gestern Nachmittag hierher geklebt, dabei hat sie da bestimmt schon gewusst, dass man sie heute früh operieren würde.“
13.
DER FREUND MEINES FREUNDES
Kornél wohnte bereits seit Monaten in der nordwestlichen Eckkuppel, seit wann genau, wusste man jedoch nicht, da er ein verborgenes Leben führte. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – kursierten Legenden über ihn. Zum Beispiel hatten alle davon gehört, wie er sich vom Wehrdienst befreit hatte: Er war einfach von der Elisabethbrücke in die eiskalte Donau gesprungen! Die Wahrheit, nämlich, dass Gábor von der Elisabethbrücke gesprungen und Kornél gar nicht bei der Armee gewesen war, wussten nur wenige, und mit der Zeit geriet sie ganz in Vergessenheit.
Dabei trug Gábor als Beweis den Krankenhausbericht in seiner Geldbörse. Er wusste, dass es Zweifler geben würde. Demnach war der Soldat Gábor Kender am frühen Abend des 4. Oktobers dieses Jahres in suizidaler Absicht von der Elisabethbrücke in die Donau gesprungen und bis zur Petőfi-Brücke geschwommen. Den Rest konnte man von Gábor erfahren: Er gelangte ans Ufer, kletterte auf allen vieren bis zur Leitplanke des Kais, stützte sich dort ab und wartete in Ruhe darauf, gerettet zu werden. Die Autofahrer mussten den über der Leitplanke hängenden uniformierten Körper gesehen haben, blieben jedoch nicht stehen. Gábor zählte achtzig Autos. Erst das einundachtzigste – ein cremefarbener Lada 1500 – hielt an. Dabei gehörte zu diesem Zeitpunkt bereits einiger Mut dazu, da Gábor in seiner Enttäuschung mit einem Stück Beton herumfuchtelte. Das einundachtzigste Auto fuhr ihn ins St. Johannes Krankenhaus, von wo er ins Militärkrankenhaus transportiert wurde. Die Lungenentzündung hatte er erst am Ufer bekommen, nicht in der Donau. Vor dem fünfzehn Meter tiefen Sprung selbst hatte er keine Angst gehabt. In der achten Klasse hatte er noch Turmspringer werden wollen, dann hörte er jedoch auf, da er um sein Gehirn fürchtete.
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