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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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Verspätung. Dabei waren wir gerannt, um ihn zu erreichen, denn Gábor hatte im Spätverkauf noch die zwei Liter Apfelwein gekauft. Und einen halben Liter Kirschschnaps.
    Gábor hatte sich bis jetzt nicht mit meinen Personalien befasst. Nicht, dass ihn Daten im Allgemeinen nicht interessiert hätten, nur war er davon überzeugt, dass ich ein offenes Buch sei. „Das Komplexbündel aus dem Lager“, wie Patai es formuliert hatte, als er ihn auf mich ansetzte. Ein Geisteskranker im Praktikum, der eines Tages die Bibliothek in Brand setzen würde. Gábor hielt es für eine schöne und interessante Aufgabe, mich im Auge zu behalten. Er sah in mir kein Ungeheuer, sondern einen Idioten, der ein besseres Schicksal verdient habe und den man daher vor sich selbst retten müsse. Um den man sich kümmern müsse. Er verhielt sich mir gegenüber also wohlwollend und selbstlos, wobei man nicht verschweigen darf, dass ihm ein Trottel, für den er ein bisschen Kornél, ja, sogar Patai, spielen konnte, schon sehr gelegen kam. So kam es, dass vom ersten Moment unserer Bekanntschaft an er derjenige war, der zu mir sprach und meine Antworten entweder gar nicht beachtete oder frei interpretierte. Dass ich in Nyék wohnen könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn.
    Er hatte mir beim Denkmal Eugens von Savoyen den Befehl erteilt: „Na, Tamás, dann fahren wir jetzt nach Nyék.“
    „An Alkohol wird es uns nicht fehlen“, sagte er, um die angenehmen Aspekte des Abenteuers zusammenzufassen. „Wir werden nicht erfrieren. Vertraue mir. Der letzte Zug fährt zweiundzwanzig Uhr vierzig, den erreichen wir locker. Und morgen früh suchen wir Onkel Endre Olbach auf und besprechen die Sache mit ihm. Und bis dahin lassen wir es uns gut gehen. Wir haben ohnehin manches zu besprechen.“
    Das klang ein bisschen bedrohlich, aber es überraschte mich nicht.
    Aufgrund der bisherigen Geschehnisse hatte ich ohnehin schon damit gerechnet, dass ich, nachdem wir den ganzen Abend gewartet hatten, Gábor am Ende nicht loswürde. Unsere Familie wurde von Verrückten verfolgt. Jetzt sah ich bereits vor mir, wie ich mit ihm bei minus zwanzig Grad mitten in der Nacht in Nyék stehen, und es sich herausstellen würde, dass er nicht in der Lage sei, allein zu sein, er eine regelrechte Phobie vorm Alleinsein oder einfach nur keinen Platz zum Schlafen habe, oder was auch immer. Und dann würde ich ihn nicht bei minus zwanzig Grad stehen lassen können. Obwohl ich ihn nicht gerne mit nach Hause nehmen würde. Mit einem Mann zu Hause aufzutauchen, das fehlte noch! Zudem mit einem, der so verrückt war. Denn auch wenn die Familie von Verrückten verfolgt wurde, sah die konkrete Situation immer anders aus: Wenn ich nun einen mit nach Hause bringen würde, würden gleich alle denken, ich sei schwul.
    „In Ordnung“, sagte ich. Es würde schon irgendwie werden. Denn ich hatte genug davon, ständig alles abzuwägen.
    Damit hatte er nicht gerechnet. (Ich auch nicht.) Wenn er mich schon unter seine Fittiche genommen hatte, musste er auch meinen Widerstand brechen: Er musste erreichen, dass ich ihm blind in die hundekalte Nacht folgte, und zwar ausschließlich deshalb, weil er, Gábor Kender, mich mit der Zauberkraft seiner Persönlichkeit dazu hatte bewegen können. Und es tat ihm natürlich auch gut, jemanden ein bisschen zu tyrannisieren. Endlich war er der
Herr der Lage
. Wenn ich jedoch keinen Widerstand zeigte, hatte er nichts zu brechen.
    „Einmal nicht nach Hause zu gehen, ist genau das, was du brauchst“, sagte er in der Hoffnung, mir doch ein wenig Widerstand entlocken zu können.
    In Wirklichkeit freute ich mich darüber, dass mich jemand spät am Abend aus Pest weglocken wollte, hinaus in die hundekalte Nacht, egal wohin, nur irgendwohin. Den Beginn einer großen Freundschaft hatte ich mir schon immer so vorgestellt. Nur sah die konkrete Situation immer anders aus: Irgendetwas an Gábor gefiel mir nicht. Er war zu groß, zu begeistert und wollte zu sehr etwas von mir. Ich spürte an ihm den zähneknirschenden Eifer, mir und sich, komme, was wolle, eine Rolle vorzuspielen, und zwar die aus der Szene vom Beginn einer großen Freundschaft. Irgendwie müsste ich ihn doch von diesem Ausflug nach Nyék abbringen, dachte ich.
    „Ja, sicher“, antwortete ich vorsichtig.
    Ich versuchte nicht, ihn davon abzubringen. Ich wusste, dass ich mein ganzes Leben lang auf diesen Tag gewartet hatte. Ich bemühte mich also, wie der
übermenschliche Mensch
zu lächeln, der gerade im

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