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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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statt, zumindest berichtete nie jemand von etwas anderem. Es bestand daraus, dass – Zitat Tabaki –
Patais Bildung meine Bildung schon wieder in den Arsch gefickt hat
.
    Es gab jedoch zwei Ausnahmen: Kornél und mich. Kornél respektierte oder fürchtete er. Oder er bewahrte ihn sich für eine große, passende Gelegenheit auf, raunten die anderen neidischen jungen Leute, bei der er Kornél vor breitem Publikum würde erniedrigen können. Die jungen Leute glaubten nicht an das Märchen, das Kornél Patais Sohn sei. Sie lachten darüber. Daran erkannte man, wer in der Bibliothek noch zu den jungen Leuten gehörte und wer nicht. Man zählte zu den echten Korvin-Bibliotheksmitarbeitern, wenn einem bereits jeder verdächtig vorkam, und man nichts mehr für unmöglich hielt, also die grenzenlose Objektivität aufgegeben hatte. Ein junger Mensch konnte selten ein echter, vollwertiger Mitarbeiter der Korvin-Bibliothek sein. Die jungen Leute kommen und gehen, kichern über alles. Am meisten kicherten sie über Patai, und einmal im Monat schlug dieses Kichern bei jedem in lautes Lachen um: Kurz bevor der Betreffende bei Patai anzutanzen hatte. Damit versuchte man, den anderen zu signalisieren, dass man keine Angst hatte.
    Patai wurde im Ausleben seiner Sammelleidenschaft vom Prinzip der Vollbeschäftigung unterstützt: In einem Land, das dabei war, den Sozialismus aufzubauen, war Arbeit Recht und zugleich Pflicht. Jeder musste einen Arbeitsplatz oder zumindest den Stempel eines Arbeitsplatzes in seinem Ausweis haben. Wer keinen Stempel hatte, konnte bei einer polizeilichen Ausweiskontrolle sogar ins Gefängnis kommen. Und die Polizisten kontrollierten meist die Ausweise derer, die keinen Stempel hatten, da es zu ihren Aufgaben gehörte, die
gemeingefährlichen Arbeitsscheuen
von Weitem zu erkennen. Und wer in seinem Ausweis den Stempel der Staatlichen Korvin Bibliothek hatte, konnte sein Leben auf die im damaligen Ungarn freieste Art führen. In den guten alten Zeiten hätte man diese Leute Müßiggänger genannt. Und da sich die Korvin Bibliothek im Gebäude des königlichen Palastes befand, können wir uns vielleicht sogar des Begriffs der höfischen Müßiggänger bedienen.
    Das Wohnen inmitten von Büchern blickte in der Korvin Bibliothek übrigens auf eine jahrhundertelange Tradition zurück. In den verschiedenen Lagerräumen (wo sich die Bücher hätten befinden sollen) gab es schon immer Wohnungen, in denen Mitarbeiter wohnten, manchmal sogar mit Familie. Auf diese Tradition berief sich Patai stets, wenn zum Beispiel Ervin Gál an seiner Sammlung Anstoß nahm.
    Die Bibliothek hätte auf diese Gestalten gut verzichten können, von denen es in letzter Zeit in ihr nur so wimmelte. Sie war nicht mehr die Jüngste, hatte oft schlechte Laune und Grillen im Kopf, dennoch – schließlich sind es noch Kinder! – erzog sie alle Exemplare in Patais Sammlung mit Geduld, man konnte ja nie wissen, vielleicht würde aus dem einen oder anderen doch noch etwas werden.
    Und ich war eine Ausnahme, weil ich durch Onkel Olbach in die Bibliothek gekommen war, und Patai so tat, als würde er sich nicht für mich interessieren. Die Wahrheit war jedoch, dass er sich sehr für mich interessierte. Gábor war der Ansicht, er bewahre mich für eine große, passende Gelegenheit auf, um mich vor breitem Publikum zu erniedrigen.

14.
SEELISCHE IMMUNSCHWÄCHE
    „Das hätten wir geschafft“, sagte Gábor, wobei er sich im Zug auf den Sitz neben mir fallen ließ und mir sofort Apfelwein anbot, den er aus seiner folkloristischen Seitentasche zog, denn selbst Kornél war es nicht gelungen, ihm anzugewöhnen, sich ordentlich zu kleiden, also zum Beispiel keine folkloristische Seitentasche zu tragen. Daher lief er mit dieser Seitentasche, dem Symbol seiner Unabhängigkeit von Kornél, herum, in der so einiges Platz fand. Es war eine Ein-Liter-Flasche, der als Verschluss statt eines Weinkorkens ein Kronkorken diente, den Gábor mit souveräner Routine sofort am Fensterrand entfernte. Wir setzten uns. Ich trank einen großen Schluck.
    „Unsere Lage ist stabil. Bist du damit einverstanden oder würdest du mir widersprechen?“
    Er wollte eine feierliche Ankündigung machen. Er machte oft feierliche Ankündigungen, die er stets auf entsprechend umständliche Art einleitete. Im Laufe unserer Bekanntschaft, also von Mittag an bis jetzt, hatte er bereits einige feierliche Ankündigungen gemacht.
    Und nun saßen wir hier im Zug. Unsere Lage war stabil. Ich

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