Liebe Unbekannte (German Edition)
kannte bereits meinen Namen, ich hieß John Torrington, war an einer Bleivergiftung gestorben, danach erfroren und vor Kurzem aufgetaut worden. Die Bleivergiftung war geblieben. Sie ging mit folgenden Symptomen einher: Appetitlosigkeit, Erschöpfung, Schwächezustände und Auffälligkeiten im Zentralnervensystem, die unberechenbares Verhalten und Paralyse zur Folge haben können. Davon abgesehen war alles völlig klar: Ich trank aus einer Flasche Wein, und zwar mit diesem Gábor Soundso, der mich im Zug nach Nyék mitschleppte (dabei hatte ich eine Monatskarte für den Bus), ohne zu wissen, dass ich in Nyék wohnte, er mich folglich gerade nach Hause schleppte.
Das war meine Lage.
Es hatte bereits seit geraumer Zeit Anzeichen dafür gegeben, dass ich früher oder später in diese Lage geraten würde, die ich jedoch natürlich nicht beachtet hatte, da sie unter den Tausenden von Vorzeichen anderer Situationen untergegangen waren.
„Du wirkst, als hättest du eine Bleivergiftung, Tamás“, hatte Gerda, seitdem sie im September wieder zu uns gezogen war, wiederholt zu mir gesagt. Wobei erwähnt werden muss, dass ihr wiederum Erika vorwarf, ihr Leben zu vergeuden, gerade Erika, die (mit dem kleinen Balázs) ebenfalls wieder bei uns wohnte (sie jedoch zumindest eindeutig mit dem Ziel, ein neues Leben anzufangen). Und mir machten beide Vorwürfe. Zuletzt vor drei Tagen, am Abend, als ich nach Hause kam. Erika fing damit an.
„Bruderherz, warum warst du nicht dabei?“
„Wo, Schwesterherz?“
„Bei der Beerdigung.“
„Welcher Beerdigung?“
„Der von Tante Mara, Tamás.“
„Sie ist gestorben?!“
Erika seufzte.
„Mein Gott, ich wusste es. Als würdest du nicht hier wohnen.“
„Mist“, sagte ich teilnahmslos. „Das hat mir niemand gesagt.“
Dabei dachte ich an etwas anderes. Nämlich daran, dass sich das Rätsel um die im Lager weinende Frau nun gelöst habe: Offenbar war es tatsächlich Emma Olbach. Die Arme trauerte um ihre Großmutter.
Und Erika erzählte mir alles. Sie erzählte mir die Legende von Tante Maras Tod, die fertige, endgültige Version, die in Nyék heute noch kursiert, denn sie war für mehrere Generationen die Bibliotheksfrau von Nyék gewesen. Die Legende lautete wie folgt: Im Herbst war Onkel Olbach krank geworden. Ihm ging es so schlecht, dass Tante Mara schon ans Schlimmste dachte. Und in ihrer Verzweiflung fiel ihr keine bessere Heilmethode ein, als selbst krank zu werden, kränker als ihr Mann, der so keine Zeit mehr für seine eigene Krankheit haben würde. Das machte sie dann auch. Sie wurde schnell krank, tatsächlich kränker als Onkel Olbach, und bald darauf starb sie. Aber die Heilmethode an sich war wirkungsvoll, denn Onkel Olbach wurde während der Pflege seiner Frau wirklich wieder gesund.
Das war die Legende. In Nyék gilt sie bis heute als das schönste Beispiel für die bis zum Grab anhaltende Liebe und Selbstaufopferung. Ab der Mitte hörte sogar ich Erikas Erzählung zu.
Erika und Gerda waren bei der Beerdigung gewesen und hatten unsere Familie repräsentiert. Denn in der Traueranzeige stand, dass, dem Wunsch der Verstorbenen entsprechend, nur die Familie und der engste Freundeskreis anwesend sein sollten … Wir also nicht. Mutter schickte im Namen der Familie Krizsán ein Trauertelegramm und ging nicht zu der Beerdigung. Später stellte sich heraus, dass wir die Einzigen in ganz Nyék waren, die eine Traueranzeige bekommen hatten, dennoch war das halbe Dorf beim Begräbnis. Ich hatte die Traueranzeige jedoch gar nicht zu Gesicht bekommen, da ich meist spät von der Bibliothek nach Hause kam und manchmal tagelang niemanden aus der Familie traf.
Ich solle gar nicht erst versuchen, mich herauszureden, sagte Erika, und die Traueranzeige habe sicherlich Gerda versteckt, da Mutter alles wegschmeiße.
Ich sagte, ja, sicherlich, und beschloss insgeheim, die Frau im Lager anzusprechen (die höchstwahrscheinlich nicht Emma Olbach sein würde), denn wenn das Schicksal es mit einem so gut meint, ihm jeden Tag Viertel vor eins eine weinende Frau zu liefern, und er trotzdem nicht zu ihr ging, um sie zu trösten, dann sollte sich derjenige wirklich einen Strick nehmen.
„Die Arme“, sagte ich und dachte daran, an einem der nächsten Tage zu Tante Maras Grab zu gehen, was ich dann natürlich doch nicht tat, sondern erst bei Onkel Olbachs Beerdigung.
Und nun saß ich hier im Zug nach Nyék, der noch nicht einmal losfuhr. Er stand im Südbahnhof. Hatte schon
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