Liebe Unbekannte (German Edition)
ihn nicht gern in etwas Neues ein und in das, was er ihm zuvor schon verschwiegen hatte, erst recht nicht. Er vertraute ihm nicht. Kornél ging so manchen geheimen Weg, über den besser niemand Bescheid wusste. Diesmal machte er eine Ausnahme und schilderte kurz die Geschichte seiner Eltern, an der es auch nichts zu verheimlichen gab. Kornéls Eltern waren natürlich nicht identisch mit Szalai und der dicken Frau, aber sie litten an der gleichen Krankheit: und zwar an der sogenannten
seelischen Immunschwäche
. Der Fortschritt der Medizin vollzog sich in einem rasenden Tempo. Nagelneue Krankheiten warteten sprungbereit auf ihren Einsatz, manche von ihnen waren durch Mutation entstanden, andere zu militärischen Zwecken entwickelt worden, es gab aber auch einige der alten, gut bewährten Symptomgruppen unter ihnen, von denen zuvor im Traum niemand gedacht hätte, dass sie eine Krankheit seien. Eine dieser war die
seelische Immunschwäche
, auch bekannt unter dem früheren Namen
Liebe
.
„Das müsstest du dir wenigstens aufschreiben“, sagte Gábor neidisch. „
Seelische Immunschwäche
. Das ist verdammt gut.“
„Schreib du es doch auf, wenn du willst“, erwiderte Kornél. „Du kannst es haben.“
Gábor hatte bisher nur einmal in der Hütte in Nyék geschlafen. Gleich in der ersten Nacht, als er aus dem Krankenhaus gekommen war, am 15. November. Es war ein Alptraum gewesen. Es begann damit, dass er zu spät ankam und kein Brennholz fand. Gábor mochte Herausforderungen, jedoch eher dann, wenn ein anderer dabei war, der sah, dass er, Gábor, die Herausforderungen bravourös meisterte. Und diesmal war niemand bei ihm. Diese Nacht war die schiere Einsamkeit. Daher meisterte er die Herausforderung ziemlich lustlos, nichtsdestotrotz wacker. Er deckte sich mit Szalais Mantel zu, den er dort gefunden hatte. Diesem fehlte nur ein Arm, den Tabaki versucht hatte zu verbrennen (der jedoch nichts als Gestank verbreitet hatte). Alles kein Problem, ich werde einfach schlafen, dachte Gábor, legte sich hin, hörte jedoch beinah augenblicklich sein nervöses Herzklopfen. Ach, das ist halb so wild, sagte er sich, da er es für eine Nachwirkung der Lungenentzündung hielt. Dann verstärkte sich das Geräusch jedoch zum Pferdegetrappel. Er hasste Träume, hatte selten welche, und wenn, waren es nie Alpträume. Es ist kein Pferd, dachte er daher, es ist mein Herz. Dieser Gedanke war richtig und wirkungsvoll, denn das Pferdegetrappel hörte sofort auf, und er hörte erneut nur seinen eigenen Herzschlag. Er war zufrieden mit seiner Willenskraft und lauschte fröhlich dem Herzschlag. Irgendwann hörte er jedoch plötzlich gar nichts mehr, so sehr er auch die Ohren spitzte, da war nichts. Gábor war tot.
Am nächsten Tag in der Bibliothek stellte er Nachforschungen über die unterirdischen Gewässer an. Er lieh sich hydrologische Fachliteratur aus, einige Bücher über Geologie, über Archäologie, und am Abend wusste er so ungefähr darüber Bescheid, was sich unter der Oberfläche von Nyék befand. Tropfsteinhöhlen. Tropfsteinhöhlensysteme. Keller. Kellersysteme. Eingestürzte Kellersysteme. Eine keltische Siedlung. Also lauter rationale Erscheinungen. Das half jedoch nichts. Je näher der Abend rückte, desto weniger Lust verspürte er dazu, in der Hütte zu schlafen. Er wäre ungern noch einmal gestorben. Er beschloss, doch lieber Kornél zu fragen, ob er bei ihm in der Eckkuppel übernachten dürfe. Nach Bibliotheksschluss stieg er zu ihm hinauf. Dort traf er jedoch außer Kornél auch Emőke Széles an, die beiden stritten sich gerade in gedämpftem Ton. Genauer gesagt waren sie dabei, sich unter Tränen zu versöhnen: Sie hatten soeben beschlossen, ihr Leben doch gemeinsam zu verbringen. Sie richteten Gábor eine Matratze zum Schlafen her, stritten dann jedoch wieder über die Bettwäsche, woraufhin Emőke mit dem Schlusswort, sie werde das Kind also doch lieber allein bekommen, nach Hause ging. Kornél rannte ihr hinterher und kam nach anderthalb Stunden mit der Nachricht zurück, Emőke und er hätten sich endgültig getrennt. Ohne Liebe dürfe man nicht zusammen sein, und in Emőke gebe es keine Spur von Liebe. Habe es noch nie gegeben. Das bestritt Gábor, woraufhin Kornél nur sagte, sie sollten sich lieber nicht unterhalten, wenn sie kein Thema hätten. Dann entschuldigte er sich bei Gábor, und die Diskussion begann von vorne.
Am nächsten Tag ging Gábor lieber gar nicht mehr zu ihm, was Kornél tödlich
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