Liebe Unbekannte (German Edition)
Begriff war, eine lebenslange Freundschaft zu schließen. Einfach nur würdevoll lächeln.
Wenn er jedoch tatsächlich mein Freund werden sollte, sollte ich ihn vielleicht nicht gleich am Anfang belügen. Ich musste ihm sagen, dass ich aus Nyék kam. Noch bevor er von sich aus darauf kam. Ich stellte mir seinen Plan so vor, dass er bis zum Morgen in Nyék herumspazieren wollte, damit wir nicht erfroren. Es sollte eine Heldentat werden. Wenn er jedoch gewusst hätte, dass ich in Nyék nach Hause gehen konnte, wäre das Programm für ihn vielleicht gar nicht mehr so verlockend gewesen: statt eine Heldentat zu vollbringen, angespannt bei einer fremden Familie herumzusitzen. Ich würde es ihm also irgendwo unterwegs sagen, vielleicht auf dem Südbahnhof. Oder vor Kelenföld. Dort könnte er noch aussteigen, wenn er wollte.
„Und du musst dir wirklich nicht in die Hosen machen“, fuhr er fort. „Du wirst an einem Ort übernachten, der absolut unter jedem Niveau ist. Hast du schon einmal Todesangst gehabt? Das war nämlich nichts gegen das, was du dort verspüren wirst.“
„Was ist das für ein Ort?“, fragte ich argwöhnisch.
„Na, mein Zuhause! Mein bescheidenes Refugium.“
„Du wohnst in Nyék?“, fragte ich in gleichgültigem Ton.
Da Nyék seit Langem Zufluchtsort der Parias war, die über keine Budapester Anschrift verfügten, überraschte es mich nicht, dass auch die Bibliotheksunterwelt hier einen Unterschlupf hatte. Die Adresse gab man aneinander weiter: Nyék, Pfirsichhang. Gábor hatte die Adresse von Tabaki bekommen, der den vorangegangenen Winter mit zwei seiner Kumpels, den Mitgliedern der späteren Band
Nimmermehr
, dort verbracht hatte. Sie hatten die Hütte von Szalai für einen Mantel gemietet, den sie seltsamerweise ebenfalls von Szalai für die Hütte erhalten hatten, da sich die Rollen in seinem Kopf vorübergehend vertauscht hatten. Tabaki und die beiden anderen behielten den Mantel (zum Verfeuern würde er schon taugen), da sie wussten, dass Szalai ihn nie anzog, sondern selbst im Winter nur über den Arm geworfen trug, und das Entscheidende war, dass er nun weder die Hütte noch den Mantel brauchte. Nein, er war nicht gestorben, nur verbrachten er und seine Lebensgefährtin, die alte Hexe, den Winter neuerdings im Institut für Psychiatrie. Sie wurden im Rahmen eines Forschungsprogramms beobachtet – wobei sie eigentlich von niemandem beobachtet wurden, und das Programm nur ihren Aufenthalt legitimierte. Diesen hatten sie einem gutmütigen jungen Psychiater, einem Bekannten von Tabaki, zu verdanken, der in
Gut Durchbluteter Unterbauch
, der Vorgängerband von
Nimmermehr
, ein Lied gesungen hatte, und das nicht einmal schlecht, sondern mit unglaublicher hypnotischer Kraft – er war auch ziemlich von sich selbst erschrocken und hatte das Singen schleunigst an den Nagel gehängt. Er hatte ohnehin gerade sein Diplom bekommen, also war es an der Zeit, sich dem Ernst des Lebens zuzuwenden. Und
Gut Durchbluteter Unterbauch
packte die Gelegenheit schnell beim Schopf und löste sich auf. Dieser junge Psychiater bat seinen Professor darum, Szalai und die alte Hexe, die er zur Zeit des
Unterbauchs
in diversen Kneipen oft getroffen hatte, in seine Therapiegruppe aufzunehmen.
Gábor hätte sich eigentlich bis zu dem schönen Moment, als Patai auch ihm anbieten würde, in der Korvin Bibliothek zu wohnen, mit einer Matratze zufriedengegeben. Kornél schlug ihm vor, solange bei ihm in der nordwestlichen Kuppel zu wohnen, aber Gábor zeigte sich verstockt und wollte erst dann in die Bibliothek ziehen, wenn Patai es ihm persönlich anbot. Er hatte sich die südwestliche Kuppel ausgeguckt. Kornél erklärte ihm geduldig, dass er ihn verstanden habe und sagte Tabaki Bescheid (mit dem er wegen Emőke Széles’ misslungener Liebesintrige sonst nicht sprach), der Gábor daraufhin gleich die Hütte in Nyék anbot. Denn er und die Mitglieder der späteren Band
Nimmermehr
(deren Anzahl zwischen zehn und sechzig schwankte) brauchten sie nicht mehr: Sie hatten mittlerweile das Glück, in den Kellerräumen des Burgschlosses unterzukommen.
Tabaki nannte die ehemaligen Bewohner der Hütte einfach nur
die beiden alten Zombies
, Gábor machte die Sache dennoch stutzig: Waren sie vielleicht identisch mit Kornéls Eltern? Schließlich lebten diese auch in der Psychiatrie, ebenfalls wegen einer geheimnisvollen Krankheit.
„Du spinnst“, sagte Kornél, denn seitdem Gábor in die Donau gesprungen war, weihte er
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