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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: István Kemény
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einige der animalischeren Begleiterscheinungen des Lebens am eigenen Leib zu erfahren, pathetisch formuliert: An meinen Händen klebt Blut.“
    Patai sah sich zufrieden um.
    Wir lebten in einer Zeit, in der es nicht nur keine Skandale gab, sondern das Wort
Skandal
auch nicht verwendet wurde. Es befand sich in einer Ruhephase. Hier saßen hundertfünfzig ausgewählte, kluge Zwanzigjährige, und keinem von ihnen kam der Gedanke, dass wir gerade an einem landes- oder vielleicht sogar weltweiten Skandal teilhatten. Dass mit dieser Vorlesung irgendetwas nicht stimmte, darauf kam natürlich jeder. Aber auf das Wort
Skandal
nicht. Zumindest sprach es keiner aus. Die meisten beruhigten sich damit, dass Patais Frau im Sterben lag, und er wohl deshalb nur übers Wesentliche sprechen wollte.
    Ich dachte einfach, eine Hochschulvorlesung in Philosophie habe eben so auszusehen. Und dass der Auftakt zu einer Vortragsreihe in Philosophie nie bombastisch genug sein könne. Über Professoren hatte ich zu Hause ohnehin gehört, sie seien alle verrückt oder heimliche Alkoholiker. Und über Patais Existenz hatte ich auch nicht erst an diesem Morgen erfahren. Ich wunderte mich eher darüber, ihn nun mit eigenen Augen zu sehen.
    Nach der Vorlesung türmte ich aus dem Lager. Das war nicht schwer, vor allem nicht für mich, da ich die geeignetste und am meisten motivierte Person war, um aus diesem Lager zu fliehen: Es befand sich nämlich vier Bahnstationen von Nyék entfernt. Von allein wäre ich natürlich gar nicht auf die Idee gekommen zu fliehen, aber Gerda hatte mich an dem Tag bevor ich ins Lager gefahren war, erpresst: Wenn ich sowieso einen Katzensprung von zu Hause entfernt sei, solle ich doch mal kurz vorbeigehen, Vaters Mittagessen aufwärmen und mit ihm essen. Denn er bringe es fertig, bis zum Abend nichts zu essen. Oder sogar die ganze Woche.
    „Ich weiß, dass das Erpressung ist“, sagte sie überflüssigerweise.
    „Das weiß ich auch“, erwiderte ich ungerechterweise, weil ich genau wusste, dass Vater das tatsächlich fertigbrächte.
    Gerda hatte sogar im Fahrplan nachgeschaut und ausgerechnet, dass ich, wenn ich den Mittagszug nach Nyék nähme, mit dem um Viertel vor drei schon zurückfahren könne. Dann hätte ich zu Hause genau eine Stunde. Aber ich solle keinen großen Aufwand betreiben.
    „Nein, ich werde auf keinen Fall einen großen Aufwand betreiben“, sagte ich spöttisch. „Ich türme nur aus dem Lager, handele mir einen unentschuldigten Tag ein …“
    „Tomi! Du gibst Vater etwas zu essen und fährst dann zurück. Verstehst du? Komm ja nicht auf die Idee, zu Hause zu schlafen. Bitte, nicht. Fahr zurück ins Lager und lerne die Leute aus deinem Jahrgang kennen.“
    Ich nickte. Ich würde zurückfahren und Leute kennenlernen. Ich war wütend auf Gerda, denn zuvor hatte sie noch gesagt, ich solle wählerisch sein, im ganzen Land gäbe es höchstens fünf Mädchen, die zu mir passen würden, ich sei ein verkleideter Königssohn, ein hässliches Entlein, jedoch ein zukünftiger Schwan, nächstes Jahr würde ich sowieso an die Uni wechseln, ich solle nur geduldig sein. Ich lachte stets darüber, wenn sie so etwas sagte, dennoch wirkte es auf mich. Und jetzt sagte sie, ich solle die Leute aus meinem Jahrgang kennenlernen. Offenbar hatte sie mich aufgegeben.
    Neuerdings war sie ungeduldig mit mir. In diesem Sommer war es ihr gelungen, sich Zugang zur Budapester Elite zu verschaffen, wonach sie sich schon immer gesehnt hatte. Sie arbeitete in der Filmfabrik als Assistentin der Produktionsleitung. Man ging nicht gleich in die Knie vor ihr, aber gewisse Erfolge hatte sie bereits für sich verbuchen können. Sie hatte in der Filmbranche einen Fuß in der Tür. Sie war aktiv, fuhr früh am Morgen in die Filmfabrik in Fót und ging spätabends ins Bett. Nach Nyék kam sie einmal in der Woche, aber mit ihrer Vitalität brachte sie Bewegung in die ganze Familie. Nun ja, eigentlich ließ sie uns für sich herumspringen, aber wir taten es gerne, da wir sahen, dass sie glücklich war. Wir mussten sie jeden Tag (von der Telefonzelle aus) in der Filmfabrik anrufen, und erhielten stets neue Anweisungen. Sie überredete Mutter, für ein paar Wochen nach Esztergom zu Erika zu ziehen, um ihr mit Balázs zu helfen. Balázs war eine Woche zuvor geboren worden. Also lebten zu dem Zeitpunkt nur noch Vater und ich in Nyék. Gerda war am Nachmittag des Vortages mit einer riesigen Menge an Essen vorbeigekommen, als Verpflegung für

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