Liebe Unbekannte (German Edition)
Vater, weil er ja allein blieb, wenn ich ins Lager fuhr. Und nun bat sie mich, zu Hause vorbeizuschauen.
Konkret erpresste sie mich damit, dass sie von Onkel Lajos erpresst werden würde. Er sagte, wenn wir uns nicht drum kümmerten, würde er mit seinem kranken Bein nach Nyék fahren, um sicherzustellen, dass Vater etwas aß.
„Warum kommt er nicht mit dem gesunden Bein?“, fragte ich gereizt.
Ich wusste jedoch, dass Gerda recht hatte. Sie hatte jeden Grund, die anderen Familienmitglieder zu erpressen. Denn sie hielt die Familie zusammen. Sie verdiente seit fünf Jahren ihr eigenes Geld. In diesem Jahr hatte sie zum fünften Mal die Aufnahmeprüfung für ein Medizinstudium gemacht, und obgleich sie auch diesmal nicht genommen worden war, war sie sich sicher, es eines Tages zu schaffen.
Im Medizinstudium sah sie nur die erste Stufe zu dem, was sie eigentlich machen wollte. Sie konnte kein Blut sehen, wusste jedoch, dass sie die Praktika im Krankenhaus überstehen würde. Sie hatte schon im Krankenhaus gearbeitet, in der Abteilung für septische Chirurgie und es ausgehalten. Das würde ihr keine Schwierigkeiten bereiten.
Sie wollte sich mit Träumen befassen, mit Traumdeutung, verheimlichte dies jedoch vor der Familie, weil sie befürchtete, von scheinwissenschaftlichen Anschauungen infiziert zu werden. Das Schicksal der Familie bereitete ihr große Sorgen. Krampfhaft versuchte sie, so zu tun, als würde sie die Familie ernst nehmen, als gäbe es niemanden, der sie so ernst nehme wie sie, ja, als wäre sie die Einzige, die sie ernst nehme. Sie imitierte das Ernstnehmen so gut, dass sie uns schließlich wirklich ernst nahm. Ja, sie war es, die uns am meisten ernst nahm. Eigentlich befürchtete sie am meisten, niemanden zu lieben. Sie hatte also viele Sorgen.
Die Flucht an sich verlief problemlos. Niemand interessierte sich dafür, dass ich am Nachmittag nicht arbeiten ging. Ich hörte mir Patais Vortrag bis zum Schluss an, ging in der Mittagspause in den Schlafsaal, zog mich um und lief zum Bahnhof. Das war mein Anteil an der Flucht. Den Rest erledigte der Zug für mich.
Ich wollte auf dem Weg nach Nyék darüber nachdenken, wie ich Vater gegenüber meine Anwesenheit begründen sollte, ohne ihn dabei aufzuregen, gleichzeitig aber auch ohne abzustreiten, dass ich mich um ihn kümmern wollte, denn ich log nicht gerne. Aber ich dachte über etwas anderes nach.
Wie war ich hier bloß gelandet?
Darauf gab es keine sichere Antwort.
Vater hatte lange toleriert, dass Mutter mich ihr
kleines Christkind
nannte. Er hatte guten Grund dazu, weil eine falsche ärztliche Diagnose (oder eher Prophezeiung) ergeben hatte, dass sich bei mir nach dem dritten Lebensjahr die Symptome einer Kinderlähmung zeigen würden. Meine Gliedmaßen würden ungleichmäßig wachsen, und ich würde mein Leben wahrscheinlich im Rollstuhl verbringen müssen. Nach meinem dritten Lebensjahr war Vater jedoch der Meinung, meine Persönlichkeit würde starken Schaden nehmen, wenn Mutter mich weiterhin
Christkind
nennen würde, und ja, nicht nur meine, auch die von Mutter und allen anderen in der Familie: Erika und Gerda waren ohnehin schon eifersüchtig auf mich. Er war auch enttäuscht von mir. Bereits damals waren ihm Fehler in meinem Charakter aufgefallen, die er mir nie verzeihen konnte. Als ich drei Jahre alt war, besprach er also mit Mutter, dass der Kosename
Christkind
nun ein für allemal der Vergangenheit angehören sollte. Mutter war einverstanden und hielt sich auch an die Abmachung, nur beim nächsten Advent wurde sie noch einmal kurz rückfällig.
„Tomilein, es ist bald Weihnachten“, sagte sie, wobei sie mir über den Kopf strich und mit schelmischem Lächeln hinzufügte: „Bald wirst du geboren.“
Sie hielt sich schnell die Hand vor den Mund und sah Vater mit einem Blick an, als wolle sie um Verzeihung bitten, der, obgleich er selbst nicht so streng reagieren wollte, sagte:
„Und was sagst du ihm in der Fastenzeit, Irén? Dass man ihn bald kreuzigen wird?“
Das war für die ganze Familie eine harte Lektion in Sachen Realitätssinn. Der Mensch muss wissen, wo sein Platz in der Welt ist. Vater mochte das Christkind sowieso nicht. Er mochte Jesus. Was es bedeutet Stil zu haben, lernten wir von unserem Vater. Und man muss auch sehen, dass er derjenige in der Familie war, der ein Kreuz zu tragen hatte.
Mutter wäre es lieb gewesen, wenn ich ein richtiger Lausebengel gewesen wäre, falls ich mich jedoch anders entwickeln sollte,
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