Liebe Unbekannte (German Edition)
müsse man mich eben zu einem ernsten, blassen jungen Mann mit Brille erziehen (den man nicht zum Wehrdienst einberufen würde). Vater hätte sich schon damit zufriedengegeben, wenn ich mutig gewesen wäre. Aber besonnen. Und diplomatisch. Im Grunde wollten beide das Gleiche: Dass ich es zu mehr brachte als sie.
Ich sollte Historiker werden.
Wurde jedoch nur an der Hochschule angenommen.
Ich hatte den ganzen Sommer über keinen Fuß vor die Haustür gesetzt. Meine Eltern hatten panische Angst davor, dass ich schwul sein könnte, und ich vor dem Gedanken, dass sie das tatsächlich befürchteten. Ich hegte zwar die Hoffnung, vielleicht doch nur Gespenster zu sehen, mir ihre Angst nur einzubilden, traute mich aber nicht nachzufragen. Ebenso wie sie sich nicht trauten, mich danach zu fragen, weil sie ihrerseits hofften, nur Gespenster zu sehen. Jahre später wurde mir klar, dass ich es mir nicht eingebildet hatte, sie hatten mich wirklich für schwul gehalten. Dabei war ich einfach nur unglücklich gewesen.
Ich hätte sie natürlich leicht beruhigen können, wenn ich mit ihnen darüber gesprochen hätte. „Ach, das ist es also“, hätten meine Eltern gedacht, und einander dabei einen verständnisvollen Blick zugeworfen, so ein bisschen Unglücklichsein ist ja bei einem Achtzehnjährigen, der keine Freundin hat, schließlich völlig normal. In diesem Alter hat es biologische Gründe, wenn jemand psychisch nicht ganz stabil ist. Und dass ich nicht schwul war, hätte sie aufatmen lassen, mein Gott, wie haben wir das nur denken können. Das wäre eine gute Lösung gewesen, wenn ich ihre Angst genau gekannt hätte. Ich war mir in dieser Hinsicht jedoch nicht sicher und wollte keine Probleme heraufbeschwören. Schließlich hätte ich ihnen nicht ohne einen triftigen Grund ins Gesicht schleudern können: „Hört zu, euer Sohn ist unglücklich.“ Dieses Wort fiel bei uns zu Hause nie, ebenso wenig wie nie über Glück gesprochen wurde. Aber mit dem notwendigen Feingefühl hätte ich es schon ansprechen können. Ich hätte lediglich im geeigneten Moment – wie zufällig –, zum Beispiel beim Abendbrot, das Thema der Ethnien in Ungarn vorm Ersten Weltkrieg aufwerfen müssen, da mich dieses wirklich interessierte. Ich hatte den ganzen Sommer lang darüber gelesen. „Wir müssten mal nach Siebenbürgen fahren“, hätte ich bei diesem Gespräch gesagt, und dadurch sanft angedeutet, dass ich nicht voll und ganz mit meinem Schicksal zufrieden war, nicht, dass ich unglücklich gewesen wäre oder gar schwul. Aber nach Siebenbürgen zum Beispiel wäre ich gerne einmal gefahren. Das wäre eine gute Lösung gewesen, denn der Wunsch zu reisen, deutete auf gesundes Denken hin, ich hätte sie auch nicht verletzt, denn eine Auslandsreise war auch für andere Familien Luxus, und was eine Reise nach Siebenbürgen betraf, davon wollte Vater sowieso nichts wissen, solange die Rumänen es nicht zurückgaben. Und auf die Rumänen war in dieser Hinsicht Verlass: Sie dachten nicht im Traum daran. Ich hätte sie also nicht wegen einer realen Reisemöglichkeit zur Rechenschaft gezogen, sondern nur über eine gemeinsame, traurige Wunschvorstellung gesprochen. Ja, das wäre die perfekte Lösung gewesen, um meinen Eltern, ohne irgendwelche Forderungen zu stellen, die sie erniedrigt hätten, unmissverständlich zu verstehen zu geben: Ich sei leider nicht vollkommen glücklich, aber auch nicht schwul, Gott sei Dank!
Ich hatte also einen fertigen Plan, wie ich mich meinen Eltern endlich mal anvertrauen würde. Es kam jedoch nie dazu, da ich für mich ganz anders darüber dachte. Ich hielt mich überhaupt nicht für unglücklich. Wie käme ich denn dazu, ein so hehres Gefühl wie das Unglücklichsein zu verspüren? Es ging doch einfach nur darum, dass ich einsam war.
Gerda hätte es am liebsten gesehen, wenn ich mich dem Einflussbereich der Familie entzogen hätte (wenn es ihr schon nicht gelungen war), und riet mir, mich an der Uni in Szeged zu bewerben, ich sollte dort im Wohnheim wohnen, das würde mir ermöglichen, für Jahre aus Nyék zu verschwinden. Sie war davon überzeugt, dass dies der einzig richtige Weg für mich sei, und sie zwang diese Meinung der Familie nur deshalb nicht auf, weil auch sie mich nicht für begabt hielt. Sie hielt mich auch nicht für blöd, nur für einen infantilen, untalentierten Jungen. Der Familie gegenüber sprach sie das natürlich nie aus, sie war in jeder Diskussion stets auf meiner Seite, betonte, wie
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