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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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Stuhl zu einer Werkbank voller Plastikfläschchen. Er hielt eines hoch und schüttelte es. »Recyceltes Fixiermittel«, sagte er anerkennend. »Damit geht’s genauso gut wie mit dem alten.« Sie starrte ihn verständnislos an und ging.
    Lewis rollte zurück zu den auf den Boden gezeichneten weißen Kreuzen, die seine Selbstporträtposition markierten, und bückte sich, um das hingefallene Auslöserkabel aufzuheben. Er kam nicht hin; er müsste auf die Knie gehen, aber wie sollte er es dann schaffen, sich wieder aufzurappeln?
    Ihm grauste vor dem Großeinkauf. Er schätzte Frieden und Klein-Klein und fand es erträglich, das zu sein, was er seit dem Ende seiner Tage als Arzt war, einer von schrecklich vielen weißhaarigen alten Männern in Fleecejacken, die sich auf der Hauptstraße herumtrieben und archaische Pflichten erledigten wie Briefe aufgeben und Zeitungen kaufen. Er war niedergelassener Arzt geworden, weil ihm der Gedanke gefiel, einen Patienten nach dem anderen zu behandeln. Jetzt stand ihm der Schrecken ins Haus, seine Familie als Horde empfangen zu müssen. Harry mit seiner lauten und scharfsinnigen Art würde kommen, zum letzten Mal. Sein evangelikaler Neffe Matthew würde mit seiner Frau und seiner Heerschar von Kindern kommen. Sein verträumter Sohn Alex würde kommen und eine neue Frau mitbringen, die nach einem blendend hellen Geisteslicht klang. Harrys Krebsforschung kam Lewis abseitig und effekthascherisch vor, obwohl er selbst genug onkologische Gräuel gesehen hatte und er einmal einen Patienten zu Harrys Versuchen geschickt hatte; der Patient hatte lange genug gelebt, um noch dement zu werden. Nein, nicht das , dachte er. Lebenslange ärztliche Erfahrung hatte Lewis gelehrt, dass die wahren Geißeln des schottischen Landlebens Einsamkeit, Rückenschmerzen, sexuelles Einerlei, Völlerei, Trunksucht, Faulheit und Infantilismus waren.
    Und Dougie würde kommen; aber Dougie war okay, da konnte Harry sagen, was er wollte.
    Lange dachten alle, es gehörte zum Spiel, wenn ein gescheiter, fröhlicher, liebenswerter Mittelschichtsjunge auf die Uni ging und das Gegenteil von dem tat, was er eigentlich tun sollte. Alle wussten, dass »eigentlich« alles andere als »eigentlich« bedeutete. Man gab vor zu glauben, dass man fleißig studieren, sparen und für die Zukunft vorsorgen musste; man gab vor, gegen diese fiktiven Vorschriften zu verstoßen, indem man Vorlesungen schwänzte, Arbeiten zu spät abgab, ordentlich einen draufmachte, sich verschuldete und den Eindruck erweckte, dass man nur im Augenblick lebte. Es wurde geradezu von einem erwartet, dass man den Rebellischen spielte, bevor man sich still darein fügte, dass man eigentlich doch genau das tun musste, woran man einst zu glauben vorgegeben hatte. Zwei Semester vergingen, bevor deutlich wurde, dass Dougies Rebellion echt war. Er tat wirklich nichts, obwohl er fünf Kriminalromane die Woche verschlang, statt Philosophie zu studieren, wie er eigentlich sollte. Er hatte wirklich sein ganzes Geld verprasst und machte kräftig Schulden. Er war ein echter Außenseiter; kein Außenseiter, der eine feste, verlässliche Gruppe von Außenseiterfreunden hat, sondern ein Außenseiter, der überhaupt keine Freunde hat. Keine Freunde zumindest in seiner Zeit an der Universität von Edinburgh. Erst als er ausstieg, ein Mädchen schwängerte – sie trieb ab –, nach Glasgow zog, sich eine Stelle als Postbote suchte, ein Kind bekam, noch ein Kind von einer anderen Frau bekam, heiratete und sich scheiden ließ, erst da gewann er Freunde, die zu ihm hielten und schworen, dass er ein feiner Kerl war.
    Für Harry bedeutete das, dass etwas passiert war. Etwas war schiefgegangen. Er war ein Vertreter der Aufklärung, glaubte an Gleichheit und Leistungsgerechtigkeit. Er wollte, dass den intelligenten Armen zum Studium verholfen wurde und die Gescheitesten aus der Mittelschicht die dummen Kinder der Reichen aus dem Weg räumten. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, Gleichheit und Leistungsgerechtigkeit könnten bedeuten, dass sein eigener Neffe Postbote wurde.
    »Ich glaube an die soziale Mobilität«, sagte er. »Aber nur nach oben, nicht nach unten.«
    Maureen sagte, Dougie sei nach wie vor derselbe. Die Welt brauchte Leute, die Briefe zustellten, und es war keine Schande, Postbote zu sein. Es war eine nützliche Tätigkeit. Wenn es auf der Welt eines Tages wirklich gerechter zuginge, wäre ein Studienabschluss nichts Erbliches mehr. Dougie, sagte Maureen, war

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