Liebe und andere Parasiten
Maureen stand fest, dass die Meere, Wälder und Tiere der Welt am ehesten gerettet wurden, wenn die Menschen restlos ausstarben, aber wer sollte dann Gärten anlegen? Es würde mehr Wale geben, aber wer würde sie preisen?
Für Maureen war der Besuch so vieler Familienmitglieder auf einmal ein Feiertag. Die abseitigen Probleme ihrer Söhne würden sie von den brennenden Fragen ablenken, die sie normalerweise bedrängten: die Not der Palästinenser, das Leid der Frauen in Afghanistan, Menschenrechte in Eritrea. Sie hatte die Nacht zuvor nicht schlafen können, weil sie ständig daran denken musste, wie es dem Mädchen in der Fabrik in China gehen würde – es musste ein Mädchen sein, da war sie sich irgendwie sicher –, wenn sie den Umschlag mit der Batterie und Maureens Beschwerdebrief auf Englisch öffnete. Da sie ihn nicht verstand, würde das Mädchen Hilfe suchen; würde von ihrem Vorgesetzten gezwungen werden, aus eigener Tasche eine Übersetzung zu bezahlen; würde einen zweiten Job annehmen müssen, um die entstehenden Schulden zu begleichen; würde mit der Miete in Verzug geraten, sich mit ihrem Mann entzweien, ihre Kinder verlieren und entweder auf den Strich gehen oder sich in den zähflüssigen, schmutzigen Strom werfen, der bestimmt durch die Stadt floss. Das alles wäre Maureens Schuld.
Gegen derartige tagtägliche Gewissenskrisen nahmen sich die Sorgen ihrer Kinder als der reine Luxus aus, etwa Alex’ obsessiver Wunsch, ein Kind zu haben, weswegen er, schien es, sich von der völlig untadeligen Maria getrennt hatte. Alex und Dougie aufzuziehen war gut und schön gewesen, eine Form selbstloser Selbstsucht; Maureen hatte sie ganz gern in ihrem Leben gehabt. Aber wenn sie keine Kinder gehabt hätte, wäre es auch gut gewesen. Sie kannte kinderlose Männer und Frauen, die auf einem turbulenten Floß voller Freunde, Neffen und Nichten durchs Leben trieben, und bekinderte Paare, die unter Sinnlosigkeit litten, sobald ihre Kinder aus dem Haus waren. Alex war nicht einsam. Er hatte Freunde, hatte Sex, verliebte sich. Warum, fragte sie sich, wollte er unbedingt ein Baby haben? Maureen fand, dass man den Kinderlosen einen Orden verleihen sollte. In der Sowjetunion, hatte sie gelesen, wurden Mütter, die zehn oder mehr Kinder hatten, mit einem Orden ausgezeichnet. Heldenmütter wurden sie genannt. Was für ein Held würde Alex sein? Es gab im Englischen kein Wort für einen Vater oder eine Mutter ohne Kinder. Sie waren wie Waisen, nur umgekehrt.
Maureen gab nicht gern zu, dass ihr zweiter Sohn Probleme hatte. Wenn ja, dann hatte Dougie so viele, dass sie sein Element waren, sein nährendes Milieu. Harry war es, der sich darüber aufregte, was mit Dougie passiert war, aber ihres Erachtens konnte eigentlich nicht davon die Rede sein, dass etwas passiert war.
Maureen setzte den letzten Ziegel, klopfte ihn mit dem Kellengriff in die Waage und kratzte den Mörtelrest ab. Sie stand auf, trat zurück und erkannte, dass sie in der Planung einen Fehler gemacht hatte. Sie hatte die Zeichnungen in einem Buch über mittelalterliche Gärten gefunden, und als sie sich für einen Platz entschieden und mit dem Bau begonnen hatte, hatte sie zwei Leute vor sich gesehen, die an einem Sommertag auf der fertigen Bank saßen und sich unterhielten wie die auf dem Stich im Buch dargestellten höfischen Liebenden. Eine der beiden war sie selbst, die Hände auf den sonnenwarmen Ziegeln, von Blumenduft und Bienengesumm umgeben. Die andere Person, wurde ihr jetzt klar, war Harry, und nach dieser Woche würde er nie wieder zu Besuch kommen. Er würde nie mit ihr auf der Bank sitzen, die sie aus Ziegeln und Erde und Kamille anlegte.
Sie schritt rasch zum Haus, bekam schließlich nach mehreren wackligen Versuchen die Gummistiefel von den Füßen und ging weiter, ohne auf das Bellen des Hundes Erasmus zu achten, ohne auf irgendetwas zu achten. Sie begab sich nach oben und stieg die ausziehbare Stahlleiter empor, die ins Dachgeschoss führte.
Der vor einer Boxkamera sitzende Lewis wandte den Blick vom Objektiv und sah, wie seine Frau mitten im Raum dem Boden entstieg. Er fasste den Fernauslöser fester und beobachtete argwöhnisch, was sie wohl vorhatte.
»Sie werden bald hier sein«, sagte Maureen. »Du solltest dich fertig machen.«
»Worin bestünde das Fertigsein?«, fragte Lewis.
»Dass deine Hände nicht nach Chemikalien riechen.«
Er sah, wie unfriedlich ihr Gesicht war, ließ das Auslöserkabel fallen und rollte auf seinem
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