Liebe und andere Parasiten
er die leere Verpackung nahm, sie betrachtete und zu Boden fallen ließ. Er kniete sich hin, drückte den Zeigefinger in den Daumen und schnippte eine der Pillen aus dem Fenster in die Dunkelheit. Bec kniete sich neben ihn, und schnippend arbeiteten sie sich von beiden Seiten aufeinander zu, bis keine Pille mehr übrig war.
Unten ertönte ein Schrei.
»Aia, das hat wehgetan«, sagte Dougie. »Womit schießt ihr da?« Eine Zigarette glomm auf, und sie hörten, wie er Rauch ausblies.
»Antibabypillen«, sagte Bec.
»Die sind eigentlich für was anderes gedacht.«
49
Harry war ein paar Wochen im Hospiz und kam dann nach Hause in die Pflege von Judith. Alex war oft da, und Matthew schaute vorbei, wann immer er konnte. Er nahm sich ganze Tage frei für die Fahrt von Lancashire.
Harry verlor allen Appetit. Er ernährte sich von geschälten Orangenschnitzen, lauwarmer Suppe und schwachem Tee. Judith wusch ihn und half ihm auf die Toilette; manchmal übernahmen das Alex und Matthew. Seine Pisse wurde schwarz und seine Kacke weiß. Seine gelb werdende Haut juckte wie wahnsinnig. Das Weiße in seinen Augen sah aus wie helles Eidotter. Er nahm Morphium; es war nie genug.
Sie lasen ihm vor, und während des Vorlesens rollte sich Gerasim zusammen und schlief auf einer Decke an der Tür. Harry mochte am liebsten Conan Doyle und Stevenson. Er hörte sich Louis Prima und Nat Gonella an. Wenn Matthew nicht zu sehr drängte, erzählte er von seiner Kindheit in Derby und von Matthews Mutter. »Sie sagte, sie habe Depressionen«, sagte er, »aber sie war bloß schüchtern.« Dougie kam, Bec kam und Rose mit einem englischen Kopftuch. Sie erzählte ihm, sie habe sein Buch über die Evolution gelesen und er irre sich, und wenn er gekonnt hätte, hätte er darüber gelacht. Sie gab ihm zum Abschied einen Kuss auf die Stirn und hinterließ einen faustgroßen Blumentopf mit einer Pflanze, an der, sagte sie, demnächst eine rote Chilischote wachsen werde.
Harry ließ sich das Bett näher ans Fenster rücken. Jeden Morgen beäugte er das kleine Büschel glänzender grüner Blätter im Topf. Mit seinen verschrumpelten Fingerkuppen stupste er an die Stelle, wo die Blätter vom Stängel abgingen. Als Judith eines Tages ins Zimmer trat, saß Harry mit tränenverschleierten Augen aufrecht im Bett und brachte kein Wort heraus. Er deutete auf die Pflanze. Eine rötliche Chilispitze lugte aus ihrer Knospe heraus.
Es gab Zeiten, da war er sich sicher, dass der Tod bevorstand, und man versammelte sich, und er starb nicht. Draußen im Flur hörte er sie dann »falscher Alarm« murmeln. Er fand die Kraft, die Schublade aufzuziehen, in der der Schlüssel zu seiner Zimmertür lag, und ihn in die Brusttasche seines Schlafanzugs zu stecken. Er veranlasste, dass Judith ihm eine bestimmte Flasche Wein aus dem Keller holte, sie mit einer Karte, die er ihr diktierte, in einer Schachtel verpackte, sie einwickelte und »Für Bec « darauf schrieb. Der Chili auf dem Fensterbrett wurde röter und größer.
Eines Freitagabends, an dem Matthew erwartet wurde, ging Judith Tee kochen und ließ Harry allein. Er hob die Decken an und setzte die Füße auf den Boden. Seine Beine waren nicht mehr zu gebrauchen; wenn er aufstand, würden bestimmt seine Knochen zusammenklappen, so sein Gefühl. Außerdem tat es weh. Trotzdem wollte er es versuchen. Er stützte sich mit den Händen auf der Bettkante ab und stemmte sich mühsam in die Senkrechte. Als er stand, versuchte er, seine Knie durchzudrücken. Vielleicht half eine Vorwärtsbewegung. Er versuchte, einen Fuß vorzusetzen, ohne ihn anzuheben, und fiel hin. »Au.« Mit seitlich schiebenden Beinen und ziehenden Händen schleifte er sich zur Tür. Kopf und Körper fühlten sich sonderbar an, als ob sie sich ausdehnten und zusammenzogen. Er hatte Zweifel, ob er es zum Bett zurück schaffen würde.
Er gelangte zur Tür, die Schlafanzughose auf die Schenkel heruntergestreift, von scheußlichen Schmerzen durchschossen, und konnte erst beim vierten Versuch den Schlüssel aus der Tasche ziehen. Er kniff ihn zwischen die Lippen und krallte sich an die Türfüllung, um sich auf die Knie zu ziehen. Er nahm den Schlüssel aus dem Mund und schob ihn ins Schloss. Seine ersten Versuche, ihn zu drehen, schlugen fehl. Als er ihn mit beiden Händen fasste, schaffte er es und hörte das Schloss einrasten. Er sank auf seinen knochigen Hintern, den Rücken an die Tür gelehnt.
Judith kam zurück und wollte herein. Ein mühseliges
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