Liebe und andere Parasiten
geheime Mummy haben. So sind die Menschen. So, was ist im Angebot? Pistazie!«
74
Zwei Jahre später fuhr Ritchie ostwärts aus London hinaus zu einem Pub in einer Garnisonsstadt, wo er alle paar Monate mal einkehrte. Auf der A12 kam der Verkehr nur stockend voran, aber Ritchies Seelenruhe war durch nichts zu erschüttern. Immer wieder schlich sich ein Grinsen in sein Gesicht, alles lief so gut: Er wohnte wieder in der tollsten Stadt der Welt. Die BBC , fand er, hatte ihm einen großen Gefallen getan, als sie Teen Makeover lange genug im Voraus abgesetzt hatte, dass er mit der Planung seines nächsten Projekts beginnen und die Rika-Films auf eine gut tragbare Kernmannschaft von einem halben Dutzend unerlässlicher Talente abspecken konnte. Er schwelgte noch in den Erinnerungen an das rauschhafte Finale der letzten Staffel, und niemand konnte ahnen, was für ein Knaller die neue Sendung werden würde. Als er das Konzept von Sing For Your Supper erläuterte, stellten alle dieselbe Frage: »Wie passt Kochen zu Musik?« Wenn das höchste Quotenziel übertroffen wird, dachte er, werdet ihr schon noch dahinterkommen.
Die ersten Therapeuten, die Ritchie ausprobierte, hatten erwartet, dass er die Arbeit machte. Sie wollten, dass er sich selbst ins Verhör nahm, sich die Fragen stellte und die Antworten gab, während sie sich zurücklehnten und die Rechnung schrieben. Er wurde von einem zum anderen weitergereicht und fand am Ende einen Mann, der ihm gefiel, kein reiner Therapeut, sondern ein richtiger Arzt, ein Psychiater, ein bodenständiger Schotte, der unter seinem Tweedjackett Hemd, Krawatte und Strickjacke trug und auf Ritchies Schule gegangen war. Bei ihrem ersten Termin begann Ritchie, der inzwischen Übung hatte, über seinen Vater zu reden. Der ruhige, geduldige Blick des Psychiaters ließ ihn stocken.
»Verzeihung, aber Sie haben nichts grundsätzlich gegen Therapeutika, oder?«, sagte der Nervenarzt. »Einige meiner Patienten glauben, wenn sie nur unentwegt über ihre Probleme quasseln, hätte ihr Unglück auch ohne einen Griff in die Pralinenschachtel irgendwann ein Ende.«
Bei dem Wort »Pralinenschachtel« lief Ritchie das Wasser im Mund zusammen. Er beobachtete, wie der Psychiater eine Schachtel aus einer Schublade holte. Es war tatsächlich eine Pralinenschachtel, eine billige Dutzendmarke, doch als der Psychiater den Deckel abnahm, war nur eine einzige Praline darin. Die anderen Mulden in dem schwarzen Kunststoffeinsatz enthielten Tabletten in verschiedenen Formen und Farben. Der Therapeut nahm sich einen Rezeptblock, zog sein Jackett aus und schob die Ärmel hoch. »Also«, sagte er, »fühlen Sie sich hier unwohl« – er tippte sich an die Stirn – »hier« – er klopfte sich auf den Bauch – »oder sowohl als auch?«
»Es ist überall innen drin«, sagte Ritchie. »Nicht nur nachts. Selbst mitten am Tag kriege ich diese Gefühle von –«
»Stopp!«, unterbrach ihn der Psychiater. »Den ganzen Bereich der ›Gefühle von‹ meide ich wie die Pest. Kostet unheimlich viel Zeit und bringt einen nicht weiter. Ich mag es lieber konkret. Fangen wir mit Ihrem Bauch an. Haben Sie dort ein Gefühl der Leere?«
»Der Hohlheit. Wie nicht richtig voll.«
»Gut. Ist es eine dumpfe Hohlheit oder eine nagende Hohlheit oder eine kribbelnde Hohlheit?«
Eine halbe Stunde später verließ Ritchie die Praxis des Psychiaters mit einem Rezept in der Tasche. Was für ein Wunder der modernen Zeit! Alles Hohle wurde gefüllt, alles Kantige wurde gerundet, der Schlaf wurde tief und die Sorgen gedämpft, sodass sich sein wahres Ich ungehindert entfalten konnte.
Mehr als die Tabletten, mehr als der Umzug nach London oder das Aufwärmen für eine neue Sendung war es die Tatsache, dass er sein Leben mit einer Frau teilen konnte, die er liebte, was Ritchie glücklich machte. »Wenn mir überhaupt etwas Schmerzen bereitet«, sagte Ritchie gelegentlich, »dann, dass ich Karin und die Kinder nicht mitnehmen konnte.«
Ein paar Monate nach Vals Verschwinden kam ihm das alte falsche Gerücht zu Ohren, er hätte eine Affäre mit Lina Riggs. Er war geschmeichelt und begann sich zu wünschen, es wäre wahr. Und es wurde wahr, als das Gerücht längst verstummt war und alle, er eingeschlossen, sich in dem Glauben wiegten, er sei ein treuer Ehemann geworden. Es kam ihm so vor, als wäre seine Liebe zu Riggsy zugleich feiner und stärker, gewaltiger und tiefer als seine jugendliche Verknalltheit in Karin oder seine Liebschaften
Weitere Kostenlose Bücher