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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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irrläuferischer Asteroid und sie aus der Bahn warf.
    20
    Durch das Schaufenster, zwischen den roten und weißen Strichen der Buchstaben, die die Worte UNISEX HAIRDRESSER ergaben, sah Harry Comrie, wie Erkin mit gefalteten Händen und gebeugten Schultern allein in seinem Laden stand und die Stelle anstarrte, wo Wand und Fußboden aufeinandertrafen. Als Harry die Tür aufmachte, löste er die Klingel aus und holte Erkin ins Hier und Jetzt zurück. Der Friseur lächelte, schüttelte ein Handtuch aus und wies Harry den Stuhl.
    Erkin war ein schmaler, kurzbeiniger Mann in einem blauen Kittel, mit tief liegenden Augen und einem zerfurchten Gesicht, das ihm ein Aussehen gab, als hätte er tragische Ereignisse durchstanden, obwohl er ein Leben lang Friseur in Nordlondon gewesen war. Sein Laden war ein Tempel der Aufgeräumtheit. Abgegriffene Utensilien aus antikem Plastik und zerkratztem Stahl waren um das Desinfektionsmittel ausgebreitet wie Memory-Karten. Ein warmer Geruch von gewaschenen Haarwurzeln hing in der Luft, und obwohl es noch früh am Tag war, lagen bereits Haarbüschel auf den abgewetzten Linoleumfliesen unter der Fußbank.
    Erkin legte Harry einen dunklen Umhang um, trat zurück und begegnete Harrys Blick im Spiegel. Es kam Harry so vor, als wäre sein Kopf abgetrennt und sorgfältig auf einen verhüllten Baumstumpf gestellt worden. Ein amerikanischer Freund hatte ihm einmal gesagt, er sehe wie David Hume aus. Das achtzehnte Jahrhundert war eine Zeit der Fairness gewesen, fand Harry, wo jeder Philosoph, ob mit Glatze, schütterem Haar oder Zotteln, eine Perücke trug. Harry überlegte, wie sein fleischiges, dicklippiges, vierundsechzigjähriges Gesicht in Marmor verewigt aussehen würde. Die Kuratoren waren zu kleingeistig, um von selber auf die Idee einer Büste zu kommen. Er würde sie ihnen einpflanzen müssen.
    »Es soll alles ab«, sagte er zu Erkin.
    Erkin nahm Harrys Kopf zwischen die Fingerspitzen und neigte ihn hin und her, sodass das Licht auf dem breiten, kahlen Oval der Kopfhaut seines Kunden tanzte. Weiße Haarkringel standen über Harrys Ohren ab und liefen, vermutete er, wild den Nacken hinunter über den Kragen.
    »Soll ich Stufe eins machen, Sir, oder soll ich sie ganz abrasieren?«
    »Nehmen Sie den Rasierer. Ich fange noch mal von null an.«
    »Das machen viele Herren wie Sie, Sir. Ab einem bestimmten Alter sieht es besser aus. Ich habe schon erlebt, wie Männer mit wenig Haaren hereinkamen und mit gar keinen Haaren hinausgingen und dabei zehn Jahre jünger aussahen.« Er nahm Harry die Goldrandbrille ab und legte sie neben das Waschbecken. Er holte die Haarschneidemaschine vom Haken, steckte einen Aufsatz auf, hielt die Maschine hoch und stellte sie an. Er fragte Harry, ob er sich sicher sei.
    »Machen Sie«, sagte Harry. Mit wenigen Strichen schnitt Erkin ihm zu beiden Seiten die weißen Locken ab. Besser so, dachte Harry und widerstand dem Impuls, auf die Knie zu gehen und die abgefallenen Haare aus der dunklen Masse auf dem Boden zu retten.
    »Ihr freier Tag heute, Sir?«, erkundigte sich Erkin, die Stimme über das Brummen der Haarschneidemaschine hebend. Harry fühlte, wie ihm die Haare im Nacken entfernt wurden. Der Vormittag war schon halb vorbei.
    »Ich bin der Boss«, sagte Harry. »Ich gehe zur Arbeit, wann es mir passt. Mein Job ist es, nachzudenken, und im Augenblick denke ich nach, also arbeite ich. Cogito ergo laboro.«
    »Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten, Sir.«
    »Ehrlich gesagt, habe ich gestern Abend auch ziemlich getankt.«
    »Eine Feier, Sir?«
    »Es wurde viel gelacht und gesungen.«
    »Ein bisschen Geselligkeit ist was Schönes, Sir.«
    »Ich war allein.«
    Physisch allein, dachte Harry. Er hatte Alex seine Diagnose mitgeteilt, und dann hatte er alle am Telefon gehabt, seinen Sohn und seine Schwiegertochter, seine älteste Enkelin, seinen Bruder, seine Schwägerin. Als Maureen schließlich an den Apparat kam, war er stockbetrunken gewesen. Er konnte sich nicht erinnern, was er zu ihr gesagt hatte. Sie hatte nicht lange reden können. Sie hatte nicht geweint, das wusste er noch; sie war stoisch geblieben. Vielleicht hatte sie ja später um ihn geweint. Die Vorstellung gefiel ihm.
    Erkin drehte den Stuhl herum, löste mit dem Fuß eine Sperre und führte Harrys Kopf nach hinten, bis sein Nacken sich in die Aussparung des Waschbeckens schmiegte. Er ließ warmes Wasser über Harrys Kopf laufen, wusch die verbliebenen Stoppeln, spülte sie aus, schlug den Kopf in ein

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