Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
Vom Netzwerk:
Neffe Alex versteht meine Arbeit besser als ich«, sagte Harry. »Er wird das Werk weiterführen. Eines Tages werden wir verstehen, wie er funktioniert, der ganze menschliche Apparat, und Mittel und Wege finden, einen alten Körper so gut wie neu zu machen. Verlieren Sie nur nicht den Glauben. Wir werden noch Wunder erleben. Ich habe gestern mit Alex gesprochen, und er hat mir Fantastisches über seine Arbeit erzählt. Er hat wirklich die Einfachheit im Herzen der Dinge gefunden.« In seinem Gesicht im Spiegel sah Harry die Miene eines lügenden Kindes, das mit dem Reichtum seiner Eltern prahlt.
    Erkin nahm Harry den Umhang von den Schultern und gab ihm ein Erfrischungstuch. Er reichte Harry die Brille und hielt den Handspiegel hoch, damit Harry seinen Hinterkopf inspizieren konnte. Harry setzte die Brille auf, musste sich aber nicht von hinten sehen. Von vorn reichte. Einerlei, was er von Erkin verlangte, der Friseur würde ihm nicht widersprechen und ihm erklären, es sei eine gute Entscheidung, und viele Herren entschieden sich genau so, und es sehe gut aus. Jetzt nach getaner Tat, wo der Schädel einmal rasiert war, sah Harry damit nicht sauber, schnittig und jünger aus. Und mit seinen entblößten Höckern und Adern sah er auch nicht wirklich büstentauglich aus. Er sah aus wie ein alter Reservist, einer vom letzten Aufgebot, das noch mobilisiert wird, wenn der Krieg schon so gut wie verloren ist. Er sah aus wie ein Sträfling, einer von vielen, Menschenmaterial für wissenschaftliche Experimente: halb ausgeschlachtet, zur letzten Phase bereit.
    Harry hatte sich aus dem Stuhl erhoben, und Erkin stand mit dem Rücken zu ihm an der Kasse. Harry bückte sich, hob eine seiner weißen Locken aus dem Haufen am Boden auf, steckte sie schnell in die Jackentasche und richtete sich auf. Erkin sah ihn an. Harry hatte sich schnell bewegt und war sich nicht sicher, ob Erkin ihn beobachtet hatte.
    »Wie gehen die Geschäfte?«, fragte er den Friseur.
    »Gut«, sagte Erkin misstrauisch. »Keine Sorge, es wächst wieder nach.«
    21
    Die Mittagszeit war vorbei, als Harry das Institut erreichte. Die Dame am Empfang blickte ihn mit großen Augen an, nahm das Telefon und sagte in den Hörer: »Er ist da«, als ob er das gar nicht hören würde. Seine Assistentin Carol wartete vor seinem Büro auf ihn, und als sie ihn sah, schlug sie die Hand, die nicht auf dem Türknauf lag, auf den Mund.
    Der Raum roch nach Whisky. Die Flasche Macallan stand offen auf dem Schreibtisch, wie er sie am Abend zurückgelassen hatte. Er hatte nur die Hälfte getrunken. Der Brief, den er aus dem Krankenhaus mitgebracht hatte, lag noch da. Er hatte den Mitarbeitern nicht erklärt, warum er sich im Büro eingeschlossen und zu trinken begonnen hatte, doch bevor er ging, hatte er eine Kopie des Briefes gemacht, »Bitte Terminkalender nach März schließen, komme morgen evtl. später« darauf gekritzelt und auf Carols Tastatur gelegt.
    »Sie hätten das Glas spülen können«, sagte er.
    »Wir wussten nicht, wo Sie waren«, sagte Carol. »Sie sind nicht zur Zehnjahresfeier erschienen.«
    »Ach, dieser Patient, der schon so lange weiterlebt«, sagte Harry.
    »Ihr Telefon war abgestellt. Sie waren heute Morgen nicht zu Hause.«
    »Ich habe auswärts gefrühstückt. War beim Friseur.«
    »Das wussten wir nicht. Wir dachten, wir sollten alles unberührt lassen für den Fall, dass die Polizei kommt.«
    »Ist der Patient schon wieder weg?«
    »Er isst mit den Mitarbeitern im Sitzungssaal eins zu Mittag. Er war enttäuscht, dass Sie nicht bei der Präsentation waren. Aber er meinte, er hätte Verständnis dafür.«
    »Sie haben es dem Patienten erzählt? Gibt es noch irgendjemand, der es nicht weiß? Hat mein Tumor mehr Freunde auf Facebook als ich?«
    »Ach, Harry.«
    »Wir müssen uns neu aufstellen«, sagte Harry mit entschlossener Pose. »Das Institut arbeitet zu planlos. Wir haben zu viele Forschungsgruppen. Wir sind hier, um Krebs zu kurieren, aber wir machen nur Murks und wetteifern darum, wer die verkorksteste Maus produziert. Ich möchte, dass alle Projektleiter heute Nachmittag zu einer Sitzung zusammenkommen.«
    »Amir hat angerufen«, sagte Carol. »Er hat gesagt, Sie sollten morgen mit Ihrer Behandlung anfangen.«
    »Wenn erst mal die Arbeit meines Neffen erscheint, wird das ordentlich für Wirbel sorgen. Wir müssen gerüstet sein.«
    »Amir hat gesagt, je früher Sie anfangen, umso besser. Er hat gesagt, es bedeutet acht Monate statt sechs.«
    Harry

Weitere Kostenlose Bücher