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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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fuhr sich mit der Hand über den ungewohnt kahlen Schädel, und anstelle der restlichen Haare fühlte er Haut, die seit frühesten Kindertagen nicht mehr nackt gewesen war. Seine Mutter hatte eine seiner ersten Locken in einem Kuvert aufgehoben, und nach einem halben Jahrhundert waren die Haare noch blond gewesen. Wo waren sie hingekommen, als sie starb? Zu ihren alten Briefen? Oder auf die Müllkippe, als das alte Haus ausgeräumt worden war?
    »Hier drin riecht es wie in einer Schnapsbrennerei«, sagte er. »Wie heißt der Patient?«
    »Shane.«
    Im Erdgeschoss blieb Harry vor der Tür mit dem Schild »Sitzung« stehen. Er presste das Ohr ans Holz, lauschte dem ernsten Stimmengewirr und passte auf, ob er seinen Namen heraushörte. Er trat ein. Die Leute im Raum verstummten und blickten ihn an. Sie hatten Pappteller mit dreieckigen Sandwiches in der Hand, die wie mit einer braunen Paste zusammengeklebt waren. Graue Gesichter erhoben sich aus der gepflegten Langeweile, Hände hielten Weingläser mit Orangensaft und Mineralwasser. Inmitten der Schar rundschultriger Wissenschaftler mit ausgebeulten Jacketts sah Harry einen Fremden stehen, groß, schlank, braun gebrannt, glänzende schwarze Haare, elegantes lila Hemd; er war etwa Ende dreißig.
    »Shane, nehme ich an«, sagte Harry. Er gab dem Patienten die Hand. Shane lächelte und blickte Harry in die Augen. Er trug in einem Ohr einen goldenen Stecker, und seine wohlgeformten Fingernägel reflektierten das Licht. Er hatte ansprechende Gesichtszüge und einen intelligenten Ausdruck. Dass ich den gerettet habe, tut mir nicht leid, dachte Harry.
    »Wir mussten ohne Sie anfangen«, sagte Robert, Harrys Stellvertreter, wobei er ein halb verzehrtes Sandwich hob und senkte, wie um damit einen Fisch darzustellen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne und betrachtete stirnrunzelnd Harrys Haarlosigkeit. »Schön, Sie zu sehen. Wir hatten schon Suchtrupps ausgeschickt.«
    Zwei Dutzend Institutsmitarbeiter lachten nervös und mitfühlend, und Harrys Augen glitten über ihre Gesichter. Er betrachtete Shane neugierig und nahm Robert am Ellbogen. »Kommen Sie doch heute Nachmittag bei mir vorbei, Bob«, sagte er. »Ich habe ein paar Ideen. Wir müssen mit dem Institut eine neue Richtung einschlagen.«
    Robert schob zustimmend die Lippen vor. »Klingt gut«, sagte er. »Warum warten wir nicht Ihre erste Behandlungsrunde ab? Sie haben erst gestern davon erfahren.«
    »Ich entscheide, wann ich mich behandeln lasse.«
    »Ihr Sohn ist unterwegs nach London. Er wird bald hier sein. An die Arbeit können Sie später noch denken. Sie müssen Zeit mit Ihrer Familie verbringen, mit Ihren Freunden.«
    Robert sagte noch mehr in der Art, und Harry hörte nicht mehr zu. Er sah Shane an und fragte ihn, ob er gern den Institutspark besichtigen würde. Shane griff sich eine lederne Sporttasche und folgte Harry nach draußen.
    Vor Jahren hatte Harry dem Kuratorium einmal Geld abgeluchst, um hinter dem Gebäude einen kleinen Park anzulegen. Ein ungepflegter Rasen mit Hecke war abgetragen und durch eine strahlenförmige Anlage aus Säulen, Rankgerüsten und Pergolen ersetzt worden. Wegen der Pflanzen hatte er Maureen zurate gezogen. Weinreben hatten sich um die Gerüste gewunden, und auf den Wegen standen in festen Abständen Emailletöpfe mit Rosmarin und Lavendel. Robert hatte ihm erklärt, es sei eine Verschwendung öffentlicher Gelder.
    »Sie sollten es mal im Frühling sehen«, schwärmte Harry dem Patienten vor. »Wenn die Reben blühen, ist es wirklich ein schöner Anblick. Schauen Sie.« Er wog eine fast reife Weintraube in der Hand. »Mit den Kosten hätten wir das Gehalt eines Forschers bestreiten können, aber Menschen zu retten reicht nicht aus. Die Welt, für die man sie rettet, muss es auch wert sein.« Er warf Shane einen verstohlenen Blick zu. Der Patient hatte einen katzenartigen athletischen Gang, eine Aura der Souveränität und Kraft. In Harrys Kopf regten sich alte Hoffnungen. Wenn die Expertenzellen nun mehr vermochten, als nur den Krebs zu besiegen? Wenn sie ihre Empfänger jung und stark machten?
    »Sie sind es selber, oder?«, fragte er. »Sie sind der Patient? Manchmal schafft es der Patient nicht, und für ihn kommt ein Verwandter.«
    Shane bleckte lächelnd seine weißen Zähne. »Ich bin es selber. Vor zehn Jahren diagnostiziert, mit Expertenzellen behandelt, vollständige Genesung, kein Rückfall. Ein Wunder.«
    »Das Wort behagt mir nicht.«
    »Ich wäre

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