Liebe und andere Parasiten
Mal Vater wurde, brachte Alex das in seinem Kopf mit Dougies finanzieller und emotionaler Leichtfertigkeit zusammen. Als sein Cousin Matthew und seine Frau Lettie anfingen, in stetiger Folge Nachkommen zu produzieren, sprach Alex mit wissenschaftlicher Neugier darüber: Was bewegte religiöse Familien dazu, mehr Kinder in die Welt zu setzen als andere? Hieß das, dass religiöse Menschen einen evolutionären Vorteil gegenüber Nichtgläubigen wie ihm und Maria hatten?
»Komm, setzen wir das Comeback der Heiden in Gang«, sagte Maria hoffnungsvoll. Alex lachte nur und wackelte mit dem Knie.
Alex war mit der Aura des Erfolgs groß geworden, die seinen Onkel Harry umgab. Harry war ein Humangenetiker, der entdeckt hatte, dass die meisten Menschen ein paar Immunzellen mit regelmäßig wiederkehrenden gutartigen Mutationen hatten, die aus den mutierten Lymphozyten erstklassige Krebsjäger machten. Genau diese Mutationen machten sie auch angreifbar; die mutierten Zellen, von Harry »Expertenzellen« genannt, tauchten hin und wieder im menschlichen Stoffwechsel auf und wurden von ihren Genossen so gnadenlos fertiggemacht wie einsame Genies von mittelmäßigen Rivalen. Harrys brillante Tat – er wollte sie gern als brillant begreifen, eine Folge perfekter blitzartiger Degenstöße, obwohl fünfzehn Jahre hartnäckiger Arbeit von ihm und seiner Forschungsgruppe darin steckten – war die Entdeckung, wie man die Expertenzellen aufspürte, bevor sie zerstört wurden, sie dem Körper entnahm, mit genetischen Manipulationen ihre Widerstandsfähigkeit erhöhte, sie millionenfach kultivierte und wieder einsetzte. Er war kurz davor, eine seltene Krebsart zu heilen, dann pausierte er eine Weile, und ohne es zu merken, hörte er nie mehr auf zu pausieren.
Harry hoffte und rechnete doch nicht damit, dass sein gescheiter Neffe ihm auf dem Weg in die Biowissenschaften folgen würde, aber Alex folgte ihm, und das mit großem Erfolg. Er besaß die Brillanz, die Harry gern gehabt hätte, und erwies sich als mathematischer Akrobat, der Molekülfaltungsformeln im Kopf durchspielen konnte, ein kontrollierter und doch extravaganter Träumer.
Alex machte es sich zur Aufgabe zu entdecken, was Harry niemals hatte erklären können, nämlich warum die Expertenzellen sich so verhielten. Mit Schreibstift und Maus und Hirn tauchte er tief in den Körper ein, in die Zellen, aus denen er bestand, in die Organellen im Innern der Zellen – das dampfende Mitochondrium, die sich pfannkuchenartig stapelnden Bänder des endoplasmatischen Retikulums und des Golgi-Apparats, die kryptischen Bündel der Zentriolen –, in die Moleküle in deren Innern und in die Atome, aus denen die Moleküle bestanden. Er chattete und skypte dann auch, als das aufkam, stundenlang mit einem bulgarisch-amerikanischen Kollegen in der Schweiz, Thomas, der von der Choreografie der Proteine Computeranimationen machte. Eines Tages disputierten sie beim häuslichen Skypen gerade über eine ausgefallene Bindungssequenz, als eine kleine dunkle Gestalt hinter Thomas’ Rücken durch die Szenerie aus schmierigen alten Pizzaschachteln, Papierbergen und ungespülten Kaffeetassen huschte, die Alex sich sonst zu übersehen bemühte.
»Was war das?«, sagte er.
»Definiere«, sagte Thomas.
»Ein Lebewesen ist hinter dir durchs Zimmer gegangen, vom Eindruck her ein großer flugunfähiger Vogel.«
Thomas blickte über die Schulter. »Margarita!«, rief er. Ein wachsbleiches Mädchen von ungefähr sechs Jahren mit kohlschwarzen Haaren und Augenbrauen und schokoladeverschmiertem Mund trat ins Bild, ein ausgestopftes Einhorn im Arm.
»Das ist Margarita«, sagte Thomas. »Meine Tochter.«
»Hallo, Margarita«, sagte Alex. »Ich bin Alex.« Sein Blick wanderte von Thomas, bierbäuchig, unrasiert, ungewaschene graue Zotteln und ein schlabberiges T-Shirt von undefinierbarer Farbe, zu der alles umwertenden neuen Person, an deren Erzeugung er anscheinend beteiligt gewesen war.
»Sag Hallo, Margarita.«
Margarita verbog sich und drehte das Gesicht weg.
»Ich würde dir gern die Hand geben, Margarita«, sagte Alex. »Aber ich bin in London, und mein Arm ist nicht so lang, dass er bis in die Schweiz reicht. Und ich will nicht den Bildschirm deines Daddys kaputt machen, indem ich die Hand durchstrecke.«
Verlockt von der Aussicht auf Scherben, wandte Margarita sich um und merkte, dass der Mann mit der großen Nase Quatsch machte. Sie lief weg.
»Meine Mutter passt in der Küche auf sie auf«,
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