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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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gerechnet, dass die auf die eine Krebsart zugeschnittene Behandlung fehlschlagen wird, sie hatte aber Erfolg. Ergo wird, wenn ich bei einem anderen Krebs mit einem definitiven Fehlschlag der Behandlung rechne, etwas Besseres herauskommen als ein definitiver Fehlschlag. Eins besser als definitiv fehlschlagen ist eventuell Erfolg haben.
    Mit diesem Gedankengang erlag Harry der Versuchung. Das gestand er sich auch ein, aber nicht, dass er auch der Hoffnung erlag.
    30
    Ein breiter Strom Tee mit Milch schien durch London zu fließen. Ab und zu funkelte die Sonne auf der Oberfläche, und dann sah man, dass der Fluss in Wirklichkeit aus Geld bestand und seine Farbe dem Sediment der aufgeweichten Scheine verdankte, die von den Geldbergen Eurasiens abgewaschen wurden. In den Windungen vor der City und Canary Wharf wurde der Fluss in seinem mächtigen Lauf zur Mündung in der Schweiz gefiltert und gereinigt, und dem an den Ufern zurückbleibenden fruchtbaren Mammonschlamm entsprossen Wolkenkratzer. Der höchste wuchs aus einer Golfdollarablagerung nahe der London Bridge. Sein Betonkern, der in jeder Blickrichtung über die Skyline hinausstieß, schien über Nacht siebzig Stockwerke hoch aus dem Boden getrieben worden zu sein.
    Harry gefiel es, London in die Höhe schießen zu sehen. Als altem Mann bereitete es ihm eine väterliche Genugtuung zu verfolgen, wie menschliche Großtaten Himmel und Horizonte einnahmen, als wäre er, wenn er dem Schwingen der Kräne und dem Gießen des Betons von der Seitenlinie zujubelte, an der gemeinschaftlichen Zeugung der Zukunft beteiligt. Jedes Richtfest war ein persönlicher Triumph. Die architektonische Kühnheit ließ sein altes Herz höherschlagen, der Heldenmut, der mit wild hingehauenen Strichen das Stadtbild veränderte.
    Er verstand seine Assistentin Carol nicht, als sie ihm erzählte, sie habe im höchsten Hochhaus eine Etage für seine Party gemietet. Die Erscheinung des Gebäudes, seine Glasverkleidung und das schrittweise Aufleuchten seiner Lichter waren für ihn wie Gesten, die die Hand des Fortschritts machte. Er hatte vergessen, dass leibhaftige Menschen dahinterstanden. Carol hatte das Hochhaus eines Tages bemerkt, sich gedacht: Wo kommt das denn her?, beschlossen, es würde Harry gefallen, und mit ein paar Telefonaten den Termin festgemacht.
    Nicht lange vor Weihnachten, um acht Uhr abends, zweihundertvierzig Meter über London, kamen die ersten Gäste aus den Aufzügen und schlenderten zu den Glasfenstern des Bankettsaals, um das Meer der strahlenden Straßenlaternen und Fenster zu bestaunen, die aus der Dunkelheit stachen. Eine zerzauste Wolke von der Länge eines Straßenblocks schob sich an ihnen vorbei über die Stadt, und sie genossen die Gottähnlichkeit ihres Standorts. Nach einer Weile hatten sie sich daran gewöhnt und fanden es nicht mehr interessant, und sie wandten sich einander zu. Eine zehnköpfige Swingband spielte, alle in weiße Smokings gekleidet, und eine dicht gestaffelte Schar von Champagnerflaschen frisch aus dem Kühler rauchte auf einem langen Tisch, an dem polnische Jungen und Mädchen in weißen Hemden und schwarzen Westen zum Einschenken bereitstanden. Weitere junge Polen, die mit dem Bus aus beengten Quartieren im äußersten Westen gekommen waren, zogen Frischhaltefolien von Platten mit Kanapees, die Puppenhausversionen berühmter Speisen darstellten: fünf Zentimeter lange Hotdogs, Zigaretten, die sich als knusprige Ente in Minipfannkuchen herausstellten, und teuflisch scharfe Klümpchen Perlhuhn-Tikka, rot gewürzt und schwarz gebraten, in Tonschälchen von Okarinagröße.
    Der Leiter der Finanzabteilung an Harrys Institut hatte gemurrt, als Carol ihn um das Geld für die Party anging. Er war es gewohnt, fünfzig Pfund für Wein und Snacks abzuzweigen. Er sah ein, dass Harry »ein führender Wissenschaftler« war, aber er fand es ziemlich mies, dem verachteten Buchhalter die Verantwortung dafür zuzuschustern, wie luxuriös das Abschiedsfest des Chefs werden durfte. Was würde das Kuratorium sagen? Soweit er wusste, wurde das Institut von öffentlicher Hand und Wohlfahrtsverbänden finanziert, damit es den Abschied der Bürger aus dieser Welt verzögerte, nicht damit es die Hinscheidenden mit einer großen Sause ihres Weges schickte.
    Der Leiter der Finanzabteilung zupfte sich an der Unterlippe, beschrieb mit dem Cursor nachdenkliche Kreise über Harrys Gehaltstabelle und merkte, dass er dasselbe grummelnde Pflichtgefühl schon früher im Jahr

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