Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek

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erschütternden Munterkeit einer Erotik-Masseuse hatte er sich abgewöhnt, für weibliche Gesellschaft zu zahlen. Nachts war niemand da, von dem Harry einen Beischlaf und ein offenes Ohr fordern konnte. Der einzige warme Körper im Haus war seiner.
    Er wachte auf, wenn die ersten in Heathrow landenden Flugzeuge aus Asien die Nacht zerrissen. In diesen Momenten war es weniger sein eigenes Schicksal, das ihm Angst machte, als ein einfacher ungeheurer Größenunterschied. Ein Bild davon, wie die Erde als deutliches türkisblaues Pünktchen über die riesige gelbe Sonnenscheibe zog, verfolgte ihn und wurde zum Auslöser eines wiederkehrenden Anfalls, bei dem ihm im Angesicht des Unerkennbaren schwindlig wurde. Im Tageslicht wurde die Angst zum Hintergrundsummen der Unruhe wegen einer bevorstehenden wichtigen Reise, die er gegen seinen Willen unternehmen musste. Immer wieder meinte er, packen zu müssen, bis ihm einfiel, dass er gar nicht verreiste.
    Chemo- und Strahlentherapie hatte er hinter sich. Eine Operation konnte ihm nicht helfen, und er hatte noch eine Schonfrist, bevor die Palliative interessant wurden. Es gab keine krebsspezifischen Aufgaben, mit denen er sich hätte beschäftigen können. Im Institut beobachtete er eine gut gemeinte Verschwörung zum Abbau seiner Verpflichtungen. In Garnisonen, die sich aufs Gefecht vorbereiteten, hatte er gelesen, beschäftigten die Offiziere die Soldaten mit sinnlosem Drill und Paraden, um sie zu ermüden und abzulenken; was aber taten die Offiziere? Harry hatte gedacht, es könnte ihn amüsieren, Anordnungen für seine eigene Beisetzung zu treffen, aber auch das taugte nicht. Er hatte seinen eigenen Grabstein bestellt, den Stein, die Typo und den Text bestimmt. Man konnte das online machen, fand er heraus. Er hatte es lustig gefunden, sich
    Harry Comrie, Krebsforscher
    Bei Mäusen hat’s geklappt
    in schwarz glänzenden Lettern tief in eine Platte aus rosigem schottischem Granit meißeln zu lassen. Eine Woche später wachte er mit rasendem Herzen und brennendem Gesicht in der Gewissheit auf, dass er zwölfhundert Pfund bezahlt hatte, um zu seinem Gedenken auf Erden einen wissenschaftlichen Insiderwitz auf einem Friedhof in Surrey zu verewigen. Gleich am nächsten Tag rief er den Steinmetz an, halb in der Hoffnung, die Auskunft würde lauten: »Ich glaube, der Stein ist noch nicht fertig. Ach nein, er ist doch schon fertig.« Aber die Frau im Büro erklärte ihm, mit der Arbeit werde erst begonnen, wenn der Kunde beerdigt sei. Wenn man den Stein zu früh aufstellte, bestehe immer die Gefahr der Bodensenkung. Man müsse das Grab erst eine Weile ruhen lassen.
    Wenn er über den Tod lachte, fand Harry, zeigte er damit, dass er sich nicht davor fürchtete, und wenn er der Aussicht, alles zu verlieren, mit Unbekümmertheit begegnete, verhielt er sich damit so vornehm, wie er es gern sein wollte. Und doch, fragte er sich, was hieß es, aus dem Tod einen Witz zu machen? War es vornehmer, seine Tapferkeit zu beweisen, indem man über sich selbst lachte, oder den Witz auf die Spitze zu treiben, indem man dem Tod ein Schnippchen schlug, sodass der Tod am Ende dumm dastand?
    Häufig kam ihm in den Sinn, dass in einem Kühlraum im Institut seine eigenen Zellen, von denen man ihm zehn Jahre zuvor eine größere Menge entnommen und, genetisch modifiziert, eine Kultur angelegt hatte, bei minus einhundertfünfzig Grad eingetütet und etikettiert in einem Planer-Einfriergerät in einer CryoStor-Lösung schwammen. Eine Probe war ihm damals ins Blut infundiert worden, um zu beweisen, dass sie sicher waren, und sie hatten bei ihm nicht die geringste Wirkung gezeigt. Sie zielten auf eine andere Krebsart ab. Es gab keinen wissenschaftlich stichhaltigen Grund, warum sie einen soliden Tumor stärker beeinflussen sollten als eine Injektion Orangensaft, und trotzdem gingen sie Harry nicht mehr aus dem Kopf. Der Krebs war seiner; die Zellen waren seine, einerlei was die Anwälte des Instituts dazu meinten; warum sollte er die beiden nicht miteinander verbinden? Es war gewissermaßen eine Familienzusammenführung.
    Harry erinnerte sich, wie sehr er daran gezweifelt hatte, dass die Expertenzellen die erhoffte Wirkung zeigen würden. Meistens im Leben war die Wirkung anders als erwartet. Und doch hatten sie bei diesen Patienten gewirkt. Harrys Gehirn legte sich eine pseudologische Beweisführung zurecht, die Unsinn war, das wusste er, aber die ihn dennoch ansprach.
    Sie ging so: Ich hatte damit