Liebe und andere Parasiten
schüttelte den Kopf und schlurfte mit den Händen in den Taschen hinter ihrem Onkel her um den Tisch. »Nimm deine Flügel aus den Taschen!«, sagte Alex. »Flieg! Und wenn dein Kind sich einmal nach dir umschaut und fragt: ›Wo hat diese Reise angefangen?‹, dann erinnerst du dich, dass du diese Frage auch einmal gestellt und nie eine Antwort bekommen hast. Du hast nie herausgebracht, wo die Reise hingeht. Aber wenn du stirbst, würdest du lieber weiterfliegen. Und die anderen um dich herum, deine Kinder und deine Freunde, der große Schwarm, sie fliegen weiter.«
»Wenn du Kinder hast.«
»Deine Sturheit ist ein erstklassiges Kauterisierungsmittel.«
»Ich weiß nicht, was das heißt.« Rose war verstimmt. »Schlau sein ist nicht alles, weißt du. Die Menschen sind nie schlau genug, um selbst zu erkennen, was Recht und Unrecht ist. Das müssen sie von einer höheren Macht gesagt bekommen.«
»Ist das die Meinung deiner Eltern?«
»Schon, aber sie sind nicht streng genug«, sagte Rose. »Ich habe einen Freund, der ist Muslim, und der hat mir erzählt, dass es alle tausend Jahre eine neue Religion geben muss, weil die alte lax wird und die Vorschriften aufweicht. Also gab es die Juden, und die wurden lax, und es gab die Christen, und die wurden lax, und jetzt gibt es die Muslime.« Ihre Augen leuchteten. »Erzähl Mum und Dad nicht, dass ich das gesagt habe.«
Später in Chris’ Zimmer rief Alex Bec an, obwohl er wusste, dass es in Tansania lange nach Mitternacht war. Er war sich sicher, dass sie nicht drangehen würde, aber dann war er doch enttäuscht. Er wollte ihr erzählen, was geschehen war: dass er sich das Lachen nicht verkneifen konnte, wenn er an sie dachte, und dass er vergessen hatte, dass es so aussah, als wäre Maria ihm ganz egal, obwohl das überhaupt nicht stimmte; auch von Harrys boshaftem Vermächtnis wollte er ihr erzählen. Er wollte jemanden zum Zuhören haben, der seine Beschämung in etwas Gutes verkehrte. Das Telefon klingelte vor sich hin, und alle paar Rufsignale gab es ein Klicken in der Leitung, als ob Bec dranginge, aber es waren nur irgendwelche Interferenzen im Kosmos. Die Liebesvorfreude, die Alex empfunden hatte, war dahin, und er zweifelte an allem. Was für ein Arschlochverhalten, wegen Maria zu grinsen; wie idiotisch zu sagen, er hätte »jemand anders gefunden «, wo Bec doch keinerlei Versprechungen gemacht und sie noch nicht mal Händchen gehalten hatten. Er fing an, über die Zeilen in den SMS nachzudenken, die sie ihm geschickt hatte, Zeilen, die er so viele Male gelesen und so zärtlich gefunden hatte, und auf einmal fielen ihm zu jedem Satz von ihr andere, nüchternere Lesarten ein. Der Gedanke, er könnte nach Daressalam fliegen und in Bec nur eine gute Bekannte haben, wenn er zwei Wochen später zurückflog, lief ihm eiskalt durch den Körper.
Beim Ausziehen stieß er sich den Kopf am Lampenschirm. Er knipste das Licht aus, legte den Kopf auf das elastische Kissen und lauschte dem Klappern des Fensters und dem Klopfen der Regentropfen an der Scheibe. Warum, dachte er, bewunderte Matthew seine medizinische Arbeit, wenn er doch bloß den Eingang der Seelen in den Himmel verzögerte, indem er die Leute am Leben hielt? Warum liebten die Gläubigen die Heiler, die sie von der Schwelle des ewigen Lichts zurückholten? Harry starb ohne Hoffnung auf das Paradies, aber Alex wusste, dass Matthew, wenn er eines Tages dem Alter und den tödlichen Krankheiten ins Auge sah, sich nicht weniger hartnäckig ans Leben klammern würde als sein Vater.
38
Irgendwas an Becs Prinzipien fand Ritchie zum Kotzen. War sie wirklich die Güte selbst? Wenn sie so gut war, warum hatte sie dann im Leben so viele Männer abgeklappert? Sie hatte kaum mit Val Schluss gemacht, da war sie schon mit Alex zugange. Vor langer Zeit hatte sie einmal ihre Mitschuld daran gestanden, dass ihr Vater ihm am Abend vor seinem letzten Einsatz dieses Grauensvieh ins Zimmer gesetzt hatte. Das böse gelbe Auge des grausamen Vogels, die ausgebreiteten Flügel und die höllischen Schatten, die sie an die Wand warfen, der dolchartige Schnabel! Der Schrei schien aus dem Schädel des Vogels zu kommen, auch wenn es seine eigene Kehle war, die ihn ausstieß.
Zum ersten Mal kam Ritchie der Gedanke, dass er, wenn er zu suchen beschlösse, bestimmt entdecken würde, dass auch seine Schwester Dreck am Stecken hatte. Sie kam ohnehin schon mit ihren Problemen zu ihm. Natürlich würde ich das niemals tun , dachte er.
Es
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