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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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modifizierten Zellen seines Onkels. Er fuhr mit dem Taxi zum Citron Square und hatte es so eilig, in Harrys Zimmer zu kommen, dass er drei Stufen auf einmal nahm. Judith, die Pflegerin, die seinen Onkel jetzt betreute, kam mit einem Infusionsständer hinterher. Sie schob Gerasim aus dem Zimmer und ließ ihn vor der Tür winseln.
    Harry lag mit einem Kissenaufbau unter Kopf und Schultern halb aufrecht auf dem Bett. Er trug eine schwarze Weste und ein weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Er war frisch rasiert. Der Duft des Rasierwassers, mit dem er sein Kinn eingerieben hatte, war ein olfaktorisches Veto im Junggesellenmief des überhitzten Zimmers, einem intensiven Geruch nach alten Büchern, jahrzehntelang getragener Wolle und sorgfältigen Waschungen. An der Wand über Harrys Kopf hing ein verblasster Druck von Raleighs Kindheit , der in seiner Jugend im Haus seiner Eltern in Derby gehangen hatte.
    Alex stampfte mit seinen Stiefeln über die knarrenden weißen Dielen. Er ließ Harry eine orangefarbene Sainsbury-Einkaufstüte in den Schoß fallen. Das dünne Plastik knisterte, als die Falten sich glätteten. Harry blickte in die Tüte und nahm einen Ein-Liter-Plasmabeutel heraus, der mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Er drehte ihn hin und her. Das Ding fühlte sich kalt an, und darauf stand sein Name in seiner eigenen Handschrift von vor fünfzehn Jahren.
    »Sainsbury«, sagte er. »Liebes Lieschen. Mein genetisch modifiziertes Ich sollte eher ein Waitrose-Artikel sein.«
    Alex hängte den Beutel an den Infusionsständer. Auf dem Tisch neben Harrys Bett tickte eifrig ein aufziehbarer Reisewecker in einem stoffbespannten Blechgehäuse. Der Weckzeiger stand auf halb acht. Neben dem Wecker lag ein Hornkamm mit einer herausgebrochenen Zinke vor einem silbergerahmten Foto von Harry und seinem Bruder, Alex’ Vater, als Jungen am Strand von Filey, mit ausgebleichten Haaren und kleinen Brustwarzen, die Zähne weiß von der sonnengebräunten Haut abstechend, die Augen in der blendenden Sonne zusammengekniffen. Je mehr sich Harrys Zustand verschlechterte, umso näher schienen ihm die alten Dinge zu rücken.
    Alex und Judith wuschen sich die Hände, zogen sich Latexhandschuhe an und bereiteten die Infusion vor. Judith stach mit der Schlauchspitze in die Kochsalzlösung, drehte die Klemmen zu, schloss den Beutel mit Zellen an, hängte Beutel und Leitungen an den Ständer und ließ Kochsalzlösung in die Tropfkammer fließen. Alex setzte sich aufs Bett, riss ein steriles Katheterpäckchen auf und hob Harrys Hand an. Er betupfte eine Stelle, und Judith führte den Katheter ein. Sie schob die Leitung in das Katheterröhrchen und ließ die Lösung einlaufen. Alex stand auf, öffnete die Klemme an der Leitung vom Zellbeutel und regelte den Durchfluss. Der Beutel begann sich in Harry zu entleeren.
    Wie seltsam es wäre, dachte Harry, wenn es etwas bewirken würde; wenn seine Muskeln wieder Substanz bekämen, seine Haut rosig und straff, seine Stimme kräftig würde, wenn sein Krebs zurückginge, seine Eingeweide blank und frei würden und er essen, reden, laufen, singen und lachen könnte, Fleisch essen und Tabak rauchen.
    »Du hältst mich für einen Spinner«, sagte er. »Du weißt, dass es mir nichts nützen wird.«
    »Wer weiß, was es dir letztes Mal genützt hat?«, sagte Alex. »Wer weiß, was für Krankheiten du nicht bekommen hast?«
    Alex wachte in der Nacht davon auf, dass jemand in sein Zimmer kam. Er knipste das Licht an, und Harry setzte sich auf seine Bettkante. Er war in Schlafanzug und Morgenmantel und hatte ein Glas Wein in der Hand. Alex fragte, wie spät es sei, und als er es aussprach, ging ihm auf, dass er eigentlich hatte fragen wollen: »Wie alt bin ich?«
    »Ich konnte nicht schlafen«, sagte Harry.
    »Wie fühlst du dich?«
    »Hervorragend.«
    »Verändert?«
    »Der Fluss läuft nicht zweimal um denselben Fuß. Was dagegen, wenn ich hier schlafe?«
    »Ja.«
    Harry stürzte einen Schluck Wein hinunter. »Du bist egoistisch. Und morgen, verdammt, fährst du nach Afrika.«
    »Du brauchst mich hier nicht. Du hast jetzt Judith, und Matthew wird immer mal bei dir reinschauen und ich auch. Wenn ich wiederkomme, werde ich eine Weile ausziehen. Ich miete mir eine Wohnung in der Nähe.«
    Harrys Mundwinkel ging nach unten, und er blickte in sein Glas. »Matthew hat gepetzt, nehme ich an. Er hat dir das mit dem Haus erzählt. Haben diese Christen nicht irgendein Gebot, das ihnen verbietet, ihre Eltern zu

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