Liebe und andere Schmerzen
als ich ihn erblicke. Doch er verschwindet in der Menge, so dass ich mich durch die Passanten kämpfen muss. Marcin bleibt an einem Schaufenster hängen, in dem er Sportschuhe entdeckt. Ich tippe ihm aufgeregt auf die Schulter. Marcin dreht sich um und erstarrt im ersten Moment. Dann umarmen wir uns lange, und beide haben wir das Gefühl, uns nicht mehr loslassen zu wollen.
Marcin sagte noch immer kein Wort. Ich fuhr ihm zärtlich über seine Wangen, strich über seine Haare. »Es wird alles wieder gut«, sagte ich, wenig überzeugt. Der Arzt hatte von den vielen Metastasen erzählt. Marcin glitt in einen anderen Zustand, er schlief bald tief und fest, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Was sollte ich nur tun? Wenn ich ihm nur helfen könnte. Sollte ich ihm von meinem sinnlosen Leben erzählen? Von meiner grenzenlosen Sehnsucht nach ihm?
Wie mein Herz hüpfte bei der ersehnten Wiederbegegnung. Wie mein Geist sich überschlug mit sich widerstreitenden Gefühlen. Wie meine Seele begann, eine Wärme über den Körper auszustrahlen …
Marcin löst sich aus dieser Umarmung. Er schaut mich lange an, zu lange, ich bin kurz davor, den Blick von ihm abzuwenden, weil ich diese Spannung nur schwer ertragen kann, doch dann kommt er mir wieder ganz nah und führt seinen Mund an den meinen. Zuerst küsst er mich zart, liebkosend. Dann drängt er darauf, die Zunge einzusetzen. Doch ich wehre mich. Ich stoße den Jungen von mir.
»Das geht nicht, Marcin!«
Doch er zieht mich an sich, brüllt fast: »Max! Ich liebe dich!«
Sollte ich ihm erzählen, wie ich mich nach ihm sehnte? Wie ich ein ums andere Mal meine moralischen Bedenken wegwischen wollte? Wie sehr ich mir gewünscht hatte, dass wir zusammenleben? Sollte ich ihm sagen, wie sehr ich ihn liebte?
»Ja, ich liebe dich«, flüsterte ich.
Im ersten Moment bin ich geschockt. Ich hatte mir jahrelang gewünscht, Marcin möge so etwas zu mir sagen. Doch in diesem Augenblick ist mir bewusst, dass ich nicht darauf eingehen kann, dass es keine Möglichkeiten für uns beide gibt, dass ich noch nicht einmal eine Minute daran denken dürfte. Ich rede mir ein, dass der Junge für mich der kleine Bruder sei, den ich mir immer gewünscht hatte. Erfolglos tue ich das, es tut weh, es schmerzt mich genauso wie wenn man Alkohol in eine offene Wunde träufelt, doch meine Gefühle und Gedanken werden nicht desinfiziert, im Gegenteil brennen sie im Anschluss noch stärker.
»Ja, ich liebe dich«, sagte ich noch einmal laut, mehr zu mir selbst als zu dem Jungen. Plötzlich piepte es ganz unheimlich, Schwestern stürmten ins Zimmer, dann ein Arzt. Hektik brach aus. Ich konnte das nicht. Ich wollte es nicht sehen. Ich rannte aus dem Zimmer, den Gang entlang. Es war so, als ob mein Gehirn plötzlich nicht mehr dachte, nur noch die Beine, nur noch das rasende Herz, und die schrien ganz laut: Nur raus hier, ganz weit weg. Hätte ich nur alles anders gemacht.
Ich liebe dich! Ja, ich liebe dich! Wie oft sehnte ich mich in Tagträumen danach, genau diese Worte von Marcin zu hören. Und sie erwidern zu dürfen!
Wir gehen zusammen in den Schlossgarten. Marcin nimmt meine Hand, so wie früher bei unseren Ausflügen, und wir laufen Händchen haltend zu einer Bank, kurz gebe ich mich kitschigen, romantischen Gedanken hin. Wie es wäre, wenn ich das jeden Tag haben könnte. Wir sitzen und reden. Marcin erneuert die Liebesschwüre. Ich bin im ersten Moment glücklich, schwebe wie früher, dann besinne ich mich eines Besseren, weise ihn ab, sage ihm:
»Es geht nicht. Du bist zu jung, Marcin. Du bist wie ein kleiner Bruder für mich. Und ich wohne so weit weg von dir.«
Der Kleine wehrt sich, er nimmt mir das nicht ab, wie denn auch, ich selbst glaube nicht an meine verlogenen Worte, möchte sie am liebsten zurücknehmen und ganz andere Dinge sagen. Er stammelt tausend »Ich-Liebe-Dich«. Er sagt, dass er bei mir wohnen könnte. Ich rede von Ausbildung, von Marcins Eltern, von Vernunft, aber nicht von Liebe. Der Junge weint. Er wird von mir, allerdings als andere Person, in den Arm genommen. Ich bin nicht der Liebende, wie es sein sollte, sondern ein väterlicher Beschützer. Ich schicke ihn nach ein paar weinerlichen Minuten weg und bleibe einsam auf der Bank zurück. Das wird mich umbringen, denke ich.
Wochenlang bereute ich meine Worte. Dachte an die Situation zurück, spielte sie tausendfach durch. Und niemals glich sie der Realität. Mein Herz sagte mir etwas anderes. Es sagte mir: Geh zu ihm,
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