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Liebe und andere Schmerzen

Liebe und andere Schmerzen

Titel: Liebe und andere Schmerzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hrg. Jannis Plastargias
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scharfen oder schmeichelnden Bemerkungen durchs Küchenfenster zu. Ihr Tod kam, wie man mir erzählte, plötzlich, ohne dass ihm eine Krankheit vorausgegangen wäre. Offenbar war einfach irgendwann das Herz stehengeblieben, wie eine Uhr, deren Batterie abgelaufen ist. Und seitdem kann ich nun nur noch ihr Grab besuchen und schweigend darauf hinabblicken, und meide die Gasse mit ihrem kleinen Haus ... Ich möchte nicht wissen, wer es jetzt bewohnt.
    Gestern aber dachte ich, mich durchschlüge ein ähnlicher Blitz wie nach Melinas denkwürdiger Frage vor vierundfünfzig Jahren ... und eine kalte Hand legte sich um meinen Nacken. Ich hatte seit einer Viertelstunde schon mit einem Cousin von der Insel telefoniert – nichts Besonderes, er kündigte mir seinen Besuch in Athen an und fragte, ob er etwas mitbringen könne. Wir waren schon am Ende unserer Unterhaltung und wollten gerade auflegen, als er schnell noch rief:
    »Ach, warte mal, ich muss dir noch was Drolliges erzählen! Erinnerst du dich noch an die verrückte Melina, die hinter der alten Marktgasse wohnte? Die seit ungefähr zwanzig Jahren tot ist?«
    Da ich nie jemanden auf der Insel in meine heimliche Verbindung zu ihr eingeweiht hatte, zuckte ich etwas erschrocken zusammen.
    »Ja ... und?«, fragte ich kurz.
    »Ihr Neffe hatte bislang noch ihr Grab unterhalten, jetzt hat er es aufgegeben. Er wollte die Gebeine herausnehmen lassen und im Beinhaus unterbringen, hatte schon den Kasten vom Schreiner geholt und alles vorbereitet. Sie machen also das Grab auf und ... finden nichts!«
    »Wie ...?«
    »Nichts, sag ich dir! Ein paar vermoderte Späne vom Sarg vielleicht, aber von Gebeinen keine Spur. Nicht mal ein Splitter ... als hätte man damals einen leeren Sarg beerdigt!«
    »Vielleicht«, sagte ich und bemühte mich, mit meiner zitternden Stimme nicht ins Stottern zu geraten, »vielleicht ... lösen Gebeine sich nach so vielen Jahren auf?«
    »Wovon redest du? Nach nur zwanzig Jahren? Hier findet man nach zweitausend Jahren und mehr noch Knochen! Nein, nein, das ist unmöglich.«
    »Ja, und ... wie erklärt man sich das dann?«
    »Keine Ahnung. Aber wie es heißt, soll sie ja viele Liebhaber gehabt haben, sogar noch bis ins Alter! Vielleicht hat einer von ihnen ihr Grab ausgeräubert und bewahrt ihre Knochen zu Hause in einem Schrein auf .« Er lachte schallend. »Also dann, Cousin – bis nächste Woche!«
    Ich ließ die Hand mit dem Telefon auf den Schreibtisch fallen und starrte durchs offene Fenster in die Zweige der Platane, die gleichmütig in der Abendbrise schaukelten. Mit einem so verstörten Blick wie damals in Melinas Küche ...

Jannis Plastargias
    ICH WEISS ES NICHT
    E s hätte keinen Unterschied gemacht, dachte ich. Mittlerweile hatte es zu nieseln begonnen, warme Tropfen rieselten auf mein Gesicht und vermischten sich mit meinen Tränen. Ich kniete vor dem offenen Grab, bereit mich hineinzuwerfen, als könnte ich ihn damit zurückholen. Die anderen Trauergäste hatten den Weg zur Gastwirtschaft angetreten, während ich noch immer um Fassung rang. Nein, es hätte keinen Unterschied gemacht. Es ist, wie es ist. Die Sehnsucht wird mich umbringen. Der Tod verstärkt jedes Gefühl, auch die Sehnsucht, die mich bereits die letzten Jahre zermürbt hatte. Was hätte ich anders machen können?
    Ich, Max, war nicht wie die anderen, mochte es auch nicht sein. Ich gehörte zu diesen Menschen, die sich nie festlegen wollten, die Regeln als etwas ansahen, das man brechen musste, und sonst keinen Sinn darin erkennen konnten. Doch da ... da passierte mir etwas, das nicht sein durfte, das ich nicht zulassen konnte ...
    Wir sitzen auf einer kleinen steinernen Pyramide, die vor dem neuen schicken Einkaufszentrum in der Karlsruher Oststadt steht. Die Sonne brennt auf uns nieder, mir laufen die Schweißtropfen die Stirn hinunter in die Augen, es juckt mich leicht. Wir lecken an unserem Eis. Wie immer, wenn wir uns alleine treffen, reden wir nur das Nötigste. Für Außenstehende müssen wir ein ungewöhnliches Bild abgeben. Ein schmächtiger Dreizehnjähriger mit blonden, kurzen Haaren, blauen Augen und süßer Stupsnase und ein muskulöser Mittzwanziger mit langen, braunen Haaren, haselnussbraunen Augen und großer Nase.
    Ich war glücklich darüber, dass ich in einer anderen Stadt lebte, in der Großstadt, wenn man Frankfurt so nennen konnte. Ich hatte die alte als miefig und eng erlebt. Alles war neu und aufregend für mich, eine völlig andere Welt. Ich konnte

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