Liebe und andere Schmerzen
frei atmen. So sein, wie ich war, zumindest wie ich dachte zu sein. Konzerte, Theater, Museen und Galerien, Ausstellungseröffnungen, Lesungen, Subkulturen – sie waren mein neues Leben.
Ich setze mich erschöpft auf die Treppenstufen vor dem Erlebnisbad, zu früh hatte ich aufstehen müssen, um an diesem Ausflug als Betreuungsperson teilzunehmen. Sonst fange ich immer kurz vor halb eins an, im Schülercafé, als Honorarkraft. Meine Schüler sind alle bereits geduscht, angezogen und geföhnt. Sie stehen abfahrbereit vor dem Eingang. Doch sie müssen auf die Mädels warten. Der Junge setzt sich auf meinen Schoß, lehnt den Kopf an meine Schulter und schließt die Augen. Ich streichele zärtlich den Rücken des Kleinen, er ist nun 14 Jahre alt, doch nach wie vor sehr klein gewachsen, sehr kindlich. Es ist merkwürdig so zu sitzen, mit einem Schüler, der zwar nicht das eigene Kind ist, aber sich so ähnlich anfühlt und sich so benimmt.
Die Jungs fehlten mir gelegentlich. Zu manchen hatte ich eine enge Bindung aufgebaut. Mein neues Leben gab mir so viel, dass ich alles andere ausblendete. Und doch ein kleiner Stachel blieb, wenn ich an meine Vergangenheit zurückdachte. Ein Kontakt, der abgebrochen war, der mir so vieles hatte geben können. Vieles, was andere Menschen nicht nachvollziehen konnten, in seiner ursprünglichen Reinheit ...
Der Junge wird von der Kollegin scherzend gefragt, ob er mich lieb habe. Ganz selbstverständlich sagt Marcin: »Ja«. Er schaut mich dabei an. Ich lache und zwinkere ihm zu. Marcin schmiegt sich an mich. Ich frage mich die ersten Wochen, ob es vertretbar ist, so mit einem »Klienten« umzugehen, doch die erfahrenere Kollegin unterstützt mich, meint, dass alles in Ordnung sei, solange es von ihm komme – wenn er es brauche und ich bereit sei, es ihm zu geben. Also ließ ich diese Nähe zu dem Jungen zu, zweifelnd und doch erfreut, manchmal denke ich zu erfreut.
Ich hatte mit Marcin noch lange nach meiner Arbeit im Schülercafé Kontakt, doch dieser brach eines Tages ab, als meine Kurzmitteilungen nicht mehr ihr Ziel fanden. Ich konnte den Jungen nie vergessen, dachte an ihn wie an einen verlorenen Sohn: Wie es ihm wohl gehe, was er in der Schule mache, welche Ausbildung er beginne, ob er glücklich sei. Dies alles wollte ich unbedingt wissen, doch ich hatte keine Möglichkeit, es zu erfahren.
Wir sitzen gemeinsam im großen Kino, unser erster Film ohne andere Schüler neben uns, er ist mittlerweile 15. Vor der Vorstellung kauften wir uns im Supermarkt Süßigkeiten und Getränke und schmuggeln sie verschwörerisch ins Kino. Wir schauen uns »Troja« an. Wir sind gemeinsam in einer Welt versunken, in einer Welt der starken, kriegerischen Männer und der Männerbündnisse. Marcin lehnt seinen kleinen Kopf an meine Schulter, es fühlt sich warm an. Ich zweifele kurz an der unschuldigen Geste – beiderseits. Doch ich versuche es zu verdrängen. Er überlässt mich meinen Gedanken, ebenso versunken in den Film. Nur einmal sagt er etwas, oder ruft es vielmehr aus: »Du bist für mich Achilles!«
Je mehr Zeit verging, desto häufiger dachte ich voller Sehnsucht an Marcin, als fehlte mir etwas ganz Wichtiges im Leben. Es war wie eine Sehnsucht, die nicht gestillt wurde, die allerdings namenlos für mich blieb. Viel zu oft ertappte ich mich bei Träumen an ihn, an Fantasien, ihn zu mir zu nehmen, mit ihm zusammenzuleben. Ich wusste allerdings, dass das nicht ging, dass es nicht sein durfte, dass ich mich lächerlich machte, dass er doch sicherlich eine Freundin hätte, hübsch wie er ist, clever, so süß, ich machte mich lächerlich und vergaß mich. Diese Gedanken versuchte ich immer häufiger zu vertreiben, vielmehr zu betäuben, mit Alkohol, mit Drogen, mit Sex. Doch es füllte meine Leere nicht aus, es weckte neue Sehnsüchte, anstatt sie zu stillen – es deprimierte mich, dass mir etwas passierte, wovon ich so oft in meinen Büchern las, als wäre ich gewöhnlich, als wäre ich schwach und langweilig.
Wir stehen am Tischkicker: Wie immer gewinne ich gegen Marcin bei diesem Spiel – jahrelanges Üben mit den älteren Hauptschülern der Oststadt trägt Früchte. Später auf dem großen Fußballfeld muss ich mich jedoch geschlagen geben, da Fußball spielen trotz diversen Trainings nicht meins ist, und bin der Häme des Jungen ausgesetzt. Das stört mich nicht. Das Foppen ist zwischen uns selbstverständlich geworden, ich vermisse es am Wochenende, wenn ich nicht im Schülercafé
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