Liebe und andere Schmerzen
arbeite. Ich fühle mich mit Marcin glücklich und befreit, alles fällt von mir ab. Es hört sich kitschig an, aber es ist wie ein Schwebezustand, es ist wie das Gefühl beim Kiffen, wenn die vollständige Entspannung einsetzt und man fast schon glaubt den sicheren Boden unter sich verlassen zu können.
Das Telefon klingelte. Nein, das konnte nicht sein. So nicht. Das wollte ich nicht wissen. Das sollte nicht sein. Es fühlte sich an, als zöge jemand in meinem Kopf drin eine Schnur fest, die alles zusammenschnürte bis es platzte, ich fühlte mich niedergedrückt, hielt kaum den Schmerz aus. Ich fuhr sofort los. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, sinnlose, unnötige, trübe, verlorene. Und trotzdem wurden diese Gedanken gedacht: Ich hätte ihn nicht verlassen dürfen. Ich hätte damals bei ihm bleiben sollen. Und ich … ich hätte … Ich wagte es nicht zu denken. Wieso spielte mir das Leben so einen bitterbösen Scherz? Wie konnte Marcin in seinem jungen Alter diese Krankheit befallen? Das ist nicht fair, dachte ich. Das durfte einfach nicht sein. Wenn ich doch nur an seiner Stelle wäre, dachte ich mir in einem verwirrten Moment, als brächte das eine Lösung für irgendeinen von uns beiden.
Wie viele Nächte hatte ich mit den Gedanken an den Jungen wach gelegen? Mit Fragen wie: Ist das Liebe? Liebe ich Marcin? Oder sind das nur niedere Triebe? Und was soll ich mit diesen Gefühlen machen? Bin ich einfach nur ein lächerlicher, bedauernswerter Kinderficker? Oder sind das Gefühle, die ich haben darf? Die rechtens sind, weil sie echt sind? Weil ich ihn von Herzen liebe? Nicht seinen jungen Körper, sondern seine Person? Doch inwieweit ist seine Persönlichkeit überhaupt ausgebildet? Ist das alles nicht nur Augenwischerei von mir? Stehe ich einfach auf Knaben? Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Und sie zermarterten mein Gehirn, raubten mir den Schlaf, verunsicherten mich, zerrütteten mein Leben, lähmten mich, ließen mich einen anderen Weg gehen, weg von der Arbeit mit Jugendlichen.
Marcin hatte in seinen letzten Tagen nicht mehr gesprochen, nur noch in seinen Träumen. Und in diesen fiel immer wieder ein Name: Max. Zuerst hatte man nicht gewusst, von wem der junge Mann sprach. Doch nach langen Überlegungen fiel der Mutter ein, dass der Student im Schülercafé von damals so hieß.
Es ist mein letzter Tag im Schülercafé, meine Gefühle sind für mich unbestimmbar. Erleichterung einerseits: die Prüfungen bestanden, einen neuen Job in einer neuen Stadt in der Tasche, aber auch Trauer, weil mir die Kinder ans Herz gewachsen, ein kleiner Teil von mir gewesen sind, einfach, weil ich für sie da sein konnte und durfte, Anteil an ihrem Leben nahm... Beim Abschied drückt Marcin mich einige Minuten lang. Es tut gut und auch wieder nicht. Es ist gleichzeitig warm und kalt. Es kribbelt ein wenig, juckt auch ein bisschen. Dann sagt er: »Wir werden immer Freunde bleiben.«
Wir schaffen es beide, die Tränen zu unterdrücken, als müssten wir das wie Männer regeln, wie in »Troja« – keine Tränen zeigen, keine Schwäche.
Werde ich ihn wiedersehen? fragte ich mich nach meinem letzten Arbeitstag. Werden wir in Kontakt bleiben? Werden wir uns aus den Augen verlieren? Ich möchte das nicht! Ich möchte ihn jeden Tag sehen, ihn berühren, ihn spüren. Ja, verdammt, ich möchte ihm sagen, dass ich ihn lieb habe, dass ich jeden Tag mit ihm zusammen sein möchte, auch wenn ich nicht mehr im Schülercafé arbeite. Verdammt, ich möchte mit ihm kuscheln! Ihn küssen. Ja, küssen. Küssen. Ihn. Oh Scheiße!
Der nun achtzehnjährige Marcin lag in seinem Bett, seine Augen waren geschlossen, er regte sich nicht, lag da wie tot, wie Schneewittchen, mit weißer Haut und roten Lippen, mein Schneewittchen, das ich gerne wachküssen würde. Ich flüsterte zärtlich seinen Namen. Im nächsten Augenblick öffnete der junge Mann langsam die Augen. Zuerst schienen sie nicht zu erkennen, doch dann strahlten sie wieder so wie früher, wenigstens für einen kurzen Augenblick. Marcin streckte so gut er konnte seine Arme in meine Richtung. Ich rückte näher, umarmte ihn. Es tat gut. Und machte mich so traurig. Wir redeten nichts. Wir weinten. Nach einer Weile löste ich mich von ihm, rückte einen Stuhl in die Nähe des Bettes und setzte mich. Ich nahm Marcins Hände in meine und streichelte sie.
Der sechzehnjährige Marcin läuft über die Einkaufszeile unweit des Schülercafés der Schule in der Karlsruher Oststadt,
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