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Liebe und Gymnastik - Roman

Liebe und Gymnastik - Roman

Titel: Liebe und Gymnastik - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edmondo de Amicis
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fühlte, dass selbst die leiseste Aufforderung zu bleiben eine Verheißung wäre, ja fast ein Versprechen, und ihr geradliniges Wesen gestattete ihr das nicht, denn sie hätte ein solches Versprechen nur geben können in der festen Absicht, es auch zu halten. Sie wich seinem Blick aus, schaute verlegen zum Fenster. Als sie dann sah, dass er die Augen niedergeschlagen hatte, blickte sie ihn nachdenklich an. Sie wusste alles, und alles fiel ihr in diesem Augenblick wieder ein. Sie hatte ihn in diesem Haus angetroffen, ordentlich, fleißig, ruhig, gutmütig, bei allen beliebt. Ihretwegen hatte er nach und nach seinen Seelenfrieden eingebüßt. Alles kam von daher. Zuerst hatte sich die Maestra Zibelli mit ihm verfeindet, dem Maestro Fassi war er inzwischen verhasst, die Familie Ginoni hatte sich von ihm abgewandt, der Student wollte ihn zum Duell fordern, Professor Padalocchi grüßte ihn nicht mehr, die Betschwestern aus dem ersten Stock hatten ihn vor die Tür gesetzt, sämtliche Mieter ihm den Krieg erklärt, der Commendatore wollte ihn aus dem Haus jagen, hatte ihn vielleicht schon weggejagt – und allein und verloren zog er nun davon. Wie sehr musste er geseufzt haben, bevor sie etwas merkte, und dann gelitten unter den Enttäuschungen und Demütigungen, wie sehr musste er sie lieben, um so hartnäckig zu sein, selbst nach so vielen Zurückweisungen, allen und jedem zum Trotz und so sehr zu seinem eigenen Schaden! Zuletzt hatte er sich ihretwegen den Kopf angeschlagen. Sie betrachtete seinen Verband. Und wie so oft war es gerade das Komische an diesem armen, verbundenen Kopf und an der Vorstellung, die sich ihr aufdrängte – wie er vom Schwebebalken herunterpurzelte –, was sie am Ende Mitleid empfinden ließ und sie erstmals zu einer Regung der Zärtlichkeit bewog. Doch der arme Don Celzani, der nicht in ihrer Seele lesen konnte, sah nur das Lächeln, das den vorherigen Gedanken begleitete, und hielt es für Spott. Das versetzte ihm den Todesstoß.
    «Ach», rief er im Ton verzweifelter Angst, richtete den Blick nach oben und breitete die Arme aus, «das sollten Sie wirklich nicht …! Sie tun mir in diesem Moment allzu weh!»
    «Oh, Signor Celzani, was glauben Sie denn?», fragte die Maestra impulsiv und ging einen Schritt auf ihn zu.
    Doch in diesem Augenblick ertönte im Vorzimmer fröhliches Stimmengewirr, ein Häuflein Lehrerinnen in Festtagskleidung stürmte lachend in den Wohnraum und scharte sich nach einem flüchtigen Blick auf den Sekretär unter lautstarken Begrüßungen und Ausrufen von allen Seiten um die Pedani. Das waren die Kolleginnen, die sie abholen kamen und zum Kongress begleiteten; das waren ihre Leidenschaft, ihre Welt, der Ruhm, die sie ihm für immer entrissen und ihm den Trost eines letzten Lebewohls raubten.
    Don Celzani warf einen letzten Blick der – in diesem Moment vollkommen reinen – Bewunderung auf das schöne Geschöpf, mit dem er nie mehr sprechen würde, und ging, seine Tränen hinunterschluckend, unbeachtet hinaus.
    Der Kongress fand im Palazzo Carignano statt, im vollkommen erhaltenen Plenarsaal des ehemaligen subalpinen Parlaments. 35 An diesem Tag waren da wohl gut dreihundert Kongressteilnehmer, Volksschullehrerinnen und -lehrer versammelt, ohne Ordnungsprinzip verteilt auf die samtbezogenen Stühle, von denen nur wenige leer blieben. Ein unerhörtes Schauspiel bot sich in diesem hochberühmten Saal, wo in den schrecklichsten und ruhmreichsten Momenten unserer Geschichte die Stimmen der größten Helden der italienischen Revolution erschollen waren. Nun war er besetzt von einer Menge Volksschullehrer, unter denen, auch was Aussehen und Kleidung betraf, sämtliche sozialen Schichten vertreten waren. Und doch hatte diese Gegenüberstellung überhaupt nichts Spöttisches, wurde so doch daran erinnert, dass das italienische Parlament seinerzeit für die meisten weit entfernt war und dass es denen, die jetzt dort saßen, wenige Jahre zuvor noch wie ein Traum erschienen wäre, sich ein paar Jahre später in dieser Stadt zusammenzufinden. In diesem ehrwürdigen Rund, in dem die Turiner die weißen Häupter und die kahlen Schädel von Gesetzgebern gesehen hatten, ragten nun die Federn und Blumen auf den Hütchen von Lehrerinnen in die Höhe, die in einer Reihe oder in Grüppchen beieinander saßen, von wo ein Gezwitscher aufstieg wie aus Spatzennestern. Auf Garibaldis 36 Platz saß ein alter Dorfschullehrer mit Kropf. Auf dem Stuhl des Grafen Cavour 37 wiegte sich ein

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