Liebe und Vergeltung
ist?“
Und plötzlich verstand Sara, was er meinte. Sie sah sich selbst als perfekte Schöpfung des Weibes im eigentlichen Sinn, von der Natur schwelgerisch mit allen Attributen femininer Reize ausgestattet, geschaffen dem Manne in seiner männlichen Kraft.
Mikahl gab Sara einen Kuß auf die Schulter, zog ihr den seidigen Stoff aus den Fingern und ließ ihn fallen.
Beim Anblick des verunstalteten rechten Oberschenkels zerriß jäh das Bild der Makellosigkeit, und gequält schloß Sara die Augen. Sie bemühte sich stets, die beiden häßlichen, vom Reitunfall und den folgenden Operationen zurückgebliebenen und fast bis zum Knie verlaufenden Narben zu ignorieren. Außerdem war das Bein nicht so kräftig entwickelt wie das andere. Und nun sah Mikahl in aller Deutlichkeit, wie entstellt sie war. Als er sie im Irrgarten verführte, hatte sie sich der verzweifelten Hoffnung hingegeben, er würde es nicht bemerkt haben, doch jetzt gab es kein Entrinnen vor der Wahrheit. Sie schlug die Lider auf und fragte voller Bitterkeit: „Gleicht der Rest meines Körpers das verkrüppelte Bein wenigstens aus?“
„Schönheit muß nicht allein den Inbegriff des Perfekten bedeuten. Das wäre langweilig“, antwortete Mikahl, kniete sich hin und drückte ihr einen Kuß auf die längere Narbe.
Sara war so überrascht und fassungslos, daß sie sich nicht zu regen wagte.
„Ein kleiner Makel wertet etwas ansonsten Meisterhaftes nicht ab“, sagte er und küßte sie ein weiteres Mal. „Im Gegenteil, es verleiht ihm den Reiz des Einzigartigen. Und eine Narbe kann die Anmut eines Körpers nicht zerstören, Sara. Nur eine seelische könnte es.“
Mikahls Küsse waren betörend, doch im Aufflackern der Leidenschaft begriff sie, daß sie ihr mehr gaben als nur körperliche Erregung. Sie schenkten ihr Selbstvertrauen und Sicherheit, denn die Liebkosungen und die Worte des Gatten waren der zärtliche Beweis dafür, daß er sie akzeptierte, mit allen ihren Fehlern. Ihr wurde leicht ums Herz, und beglückt erkannte sie, daß ihre Ängste, die jahrelangen quälenden Zweifel, von ihr abfielen, und befreit, zutiefst erleichtert, flüsterte sie: „Mikahl.“ Sie wollte ihm so vieles sagen, doch ihr fehlten die Worte, um den sie überwältigenden Empfindungen Ausdruck zu geben, und so wiederholte sie nur hilflos: „Mikahl.“
Es erschien ihr unfaßbar, daß seine Nähe ihr noch vor wenigen Wochen das Gefühl der Beklemmung, der Rastlosigkeit und Unsicherheit gegeben hatte. Doch damals war es der Prinz von Kafiristan gewesen, der sie aus der Fassung gebracht hatte, derselbe Mann, der nun ihr Gemahl war, Mikahl, den sie liebte und dem sie sich für das ganze Leben anvertraut hatte.
20. KAPITEL
Mikahl blickte zu Sara hoch, sah ihre innere Bewegung und richtete sich auf. Er hob sie auf die Arme, trug er sie zum Bett und legte sie auf das blaue Seidenlaken. Dann streckte er sich neben ihr aus, stützte sich auf einen Ellbogen und streichelte ihr die Wange. „Fühlst du dich jetzt ruhiger?“ fragte er sanft.
„Ja. Sekundenlang ist es mir gelungen, mich mit anderen Augen zu betrachten“, antwortete sie leise. „Und ich fand mich schön. Doch dieser Moment war nur von kurzer Dauer. Aber ich bin sicher, in Zukunft werde ich mich meiner Entstellung nicht mehr schämen. Eigentlich ist es albern, sich das so zu Herzen zu nehmen“, fügte sie mit einem schwachen Lächeln hinzu. „Schließlich kann außer dir ja niemand die Narben sehen.“
„Sie sind nur ein Symbol dessen, was dich in all den Jahren bedrückt hat - des Schocks, vielleicht nie mehr richtig gehen zu können; der Schmerzen, als du dich zwingen mußtest, nicht in Selbstmitleid zu ertrinken, und auch des Verlustes eines Menschen, den du einmal heiraten wolltest. Sie erinnern dich daran, daß du nicht mehr reiten oder tanzen konntest und die Bewegungsfreiheit eingebüßt hast, die Gesunden so selbstverständlich ist. Vielleicht gemahnen sie dich jetzt auch daran, daß du nicht immer deinen moralischen Ansprüchen gerecht wirst?“ Mikahl setzte sich auf und deckte Sara bis zur Hüfte zu. „Falls du das glaubst, dann täuschst du dich“, fügte er ernst hinzu. „Keiner kann behaupten, er würde seine Prinzipien niemals umstoßen. Lerne, mit dieser Erkenntnis zu leben.“
„Wie kommt es, daß du die menschliche Natur so gut verstehst?“ fragte Sara verwundert.
„Ich beobachte meine Umwelt und bemühe mich, das Wesen
des Menschen zu begreifen. Das ist sehr
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