Liebe und Vergeltung
zu finden. Weißt du, ob heute ein kleines Mädchen hier war?“
„Wann soll es denn gekommen sein?“ fragte Jenny und krauste die Stirn.
„Das geht aus dem Schreiben nicht hervor“, antwortete Sara. „Ich nehme an, am Vormittag, denn Harlow erwähnte, das Billett sei erst vor einigen Stunden abgegeben worden. Ist dir bekannt, ob Eliza mich aufgesucht hat und nicht vorgelassen wurde?“
„Wie alt ist sie, und wie sieht sie aus?“ erkundigte Jenny sich unbehaglich, ohne auf die Fragen einzugehen.
„Sie ist elf, blond und ziemlich groß für ihr Alter“, erwiderte Sara. „Ihr beide seht euch ein wenig ähnlich.“
„Heute früh, als Sie noch beim Frühstück waren, habe ich ein Mädchen, auf das die Beschreibung zutrifft, vor dem Portal gesehen“, sagte Jenny bestürzt. „Dann kam ein Mann und trug es in eine Droschke, die sofort abfuhr. Mir kam das seltsam vor, aber ich konnte nicht beobachten, warum das Kind in den Wagen gebracht wurde. Und er war auch so schnell fort, daß ich gar nicht eingreifen konnte.“
„Sah es wie eine Entführung aus?“ Sara lief ein Frösteln über den Rücken.
Jenny nickte. „Ja, das könnte sein“, räumte sie beklommen ein. „Ich meinte, den Mann schon einmal gesehen zu haben, weiß aber immer noch nicht, wo.“
„Charles kann nicht gewußt haben, daß seine Tochter zu mir wollte“, sagte Sara nachdenklich. „Er hätte es ihr nie erlaubt. Und Lady Batsford war es auch nicht bekannt. Sie hätte gewiß einen Lakaien hergeschickt.“
„Mein Gott! Jetzt erinnere ich mich“, rief Jenny erschrocken aus. „Der Mann war in Mrs. Bancrofts Etablissement und hat dort ausgeholfen, als unser Aufpasser krank war! Ich befürchte, er wollte gar nicht Miss Elizabeth in seine Gewalt bringen. Sie haben eben gesagt, sie und ich sähen uns ähnlich. Wahrscheinlich wollte man mich entführen! Ich wußte, der Besitzer des Bordelles würde wütend sein, daß ich geflohen bin. Wenn es Sir Charles gehört, und er versucht hat, mich aufzuspüren, dann wundert es mich nicht, daß ich Berney, so heißt der Mann, gesehen habe. Ich hätte nie gedacht, daß man meine Spur finden würde. Es muß eine Verwechslung passiert sein, Madam! Schlimm ist nur, daß Mrs. Bancroft das Kind nicht freilassen wird, obwohl sie sieht, daß ein Irrtum vorliegt. Sie ist ja ständig auf der Suche nach neuen Mädchen! Wie schrecklich“, fügte Jenny verstört hinzu. „Dieses Schicksal wünsche ich keinem Mädchen, nicht einmal Sir Charles’ Tochter!“
Sara ahnte Fürchterliches. Michael hatte gesagt, daß Weldon der Besitzer von Mrs. Bancrofts Freudenhaus war. „Komm, Jenny“, erwiderte sie aufspringend, „wir müssen unverzüglich zu meinem Gatten. Er wird wissen, was jetzt zu tun ist.“
Auf der kurzen Fahrt zur Park Street schwieg Jenny, und Sara grübelte darüber nach, ob es tatsächlich Elizabeth Weldon gewesen war, die man entführt hatte. Alle Anzeichen sprachen dafür, auch wenn Sara sich innerlich weigerte, an diese Möglichkeit zu glauben. Falls es jedoch stimmte, dann war auch
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Eliza ein unschuldiges Opfer der gnadenlosen Fehde zwischen Michael und Weldon geworden.
Sara war so sicher, Michael anzutreffen, daß es sie aus der Fassung brachte zu hören, er wäre mit Mr. Slade vor Stunden fortgefahren und habe nicht hinterlassen, wo er wäre oder wann er heimkehren würde. Sie brauchte einen Moment, bis sie sich von der unangenehmen Überraschung erholt hatte, zog Jenny dann in den Empfangssalon und fragte drängend: „Weißt du, wo Mrs. Bancrofts Haus ist?“
„Ja, Madam“, antwortete die Zofe.
„Dann werde ich hinfahren und Eliza herausholen, falls man sie dort festhält!“
„Madam!“ erwiderte Jenny erschrocken. „Das ist ausgeschlossen! Es wäre viel zu gefährlich! Das Viertel gehört zu den verrufensten der ganzen Stadt, und außerdem können Sie als Dame nicht in ein solches Etablissement gehen!“
„Ich muß!“ widersprach Sara fest. „Ich kann Elizabeth doch nicht in einem Bordell lassen! Wenn sie die Entführte ist, befindet sie sich seit Stunden in diesem Haus. Je länger sie bleibt, desto größer wird die Gefahr, daß ihr etwas Furchtbares zustößt!“
„Wir wissen doch nicht, ob sie tatsächlich bei Mrs. Bancroft ist“, wandte Jenny verzweifelt ein. „Wirklich, Madam, Sie dürfen dieses Etablissement nicht aufsuchen!“
„Ich fahre nicht allein“, erwiderte Sara entschlossen. „Ich nehme einen der Leibwächter mit. Nein, Kuram! Du hast doch
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