Liebe und Vergeltung
die Großzügigkeit.“
„Ich bin gleich zurück, Sir“, sagte Mrs. Bancroft und bedeutete dem Baronet, ihr zu folgen.
Allein gelassen, rechtfertigte Mikahl sich in Gedanken für sein Verhalten. Er mußte alles tun, was ihn dem Ziel näher brachte, selbst wenn er genötigt war, ein junges Mädchen zu deflorieren, nur um sich in Weldons Vertrauen einzuschleichen. Die Sache behagte ihm dennoch nicht, und er nahm sich vor, so rücksichtsvoll wie möglich zu sein.
Minuten später kehrte Mrs. Bancroft zurück und bat ihn in das obere Stockwerk. Der klobige Aufpasser folgte ihnen. Mitten im Gang blieb sie stehen, machte eine Tür auf und sagte schmeichlerisch: „Das ist ein entzückendes Geschöpf, Sir. Sie werden gewiß nicht enttäuscht sein.“
Mikahl betrat das Zimmer, schloß die Tür und blieb abwartend stehen. Fast niedergebrannte Kerzen in zwei Wandleuchtern über dem Kamin gaben ein schwaches Licht. Im Hintergrund stand ein großes, mit einem Baldachin überspanntes Pfostenbett, in dessen Schatten Mikahl eine schmächtige, auf dem scharlachroten Seidenüberzug ruhende Gestalt erblickte. Langsam näherte er sich dem Lager.
Das Mädchen mochte zwölf oder dreizehn Jahre alt sein, hatte ein hübsches Gesicht und langes blondes Haar. Vermutlich, um es noch jünger erscheinen zu lassen, trug es ein weißes Batisthemdchen mit vielen Rüschen und Volants, das wie ein Kinderkleid aussah. Mit den Handgelenken war es an den oberen Bettpfosten festgebunden, allerdings so lose, daß es die Arme bewegen konnte. Dennoch machte es nicht den Eindruck eines verstörten Mädchens, das sich davor fürchtete, die Unschuld zu verlieren. Schweigend, aus weit geöffneten Augen, schaute sie Mikahl ausdruckslos an.
Er wunderte sich, daß die Kleine keine Reaktion zeigte, und argwöhnte, man könnte sie unter den Einfluß von Drogen gesetzt haben. Oder sie begriff einfach nicht, was geschehen sollte.
Vielleicht gab es eine Möglichkeit, auf die Vergewaltigung zu verzichten. Mikahl blickte sich um und erkundigte sich in gedämpftem Ton: „Ist hier irgendwo ein Guckloch?“
Unwillkürlich sah das Mädchen zum Spiegel, der neben dem Eingang hing.
Mikahl schlenderte zu ihm und entdeckte mühelos in dem vergoldeten Rankenwerk eine winzige verglaste Öffnung. Er nahm das Taschentuch aus dem Frack, stopfte es zwischen die geschnitzten Verzierungen und frage leise: „Gibt es noch mehr solcher Löcher?“
Sekundenlang erhielt er keine Antwort. Das Mädchen überlegte offenbar, was sein seltsames Verhalten zu bedeuten habe. Wahrscheinlich vermutete es, er wollte es quälen und dabei nicht beobachtet werden. Schließlich schüttelte es leicht den Kopf, hielt die Augen jedoch argwöhnisch auf Mikahl gerichtet.
Er suchte trotzdem weiter, ohne ein weiteres Guckloch zu entdecken. Beruhigt ging er zum Bett, löste die Fesseln und setzte sich an das Fußende. „Du bist keine Jungfrau mehr, nicht wahr?“ fragte er unverblümt.
Ruckartig richtete das Mädchen sich auf. „Woher wissen Sie das, Sir?“
„Ach, das war nur ein Schuß ins Blaue, der zufällig ins Schwarze traf", antwortete er und fühlte sich erleichtert, daß es sich nicht um ein unschuldiges Kind handelte. „Wie heißt du?“
„Mrs. Bancroft nennt mich Jennifer, aber früher hieß ich Jane Miller und wurde Jenny gerufen.“ Ein verstörter Ausdruck erschien in ihren Augen, und furchtsam wich sie zur Wand zurück. „Sir, ich werde alles tun, was Sie verlangen“, versprach sie eifrig. „Aber beschweren Sie sich nicht bei ihr, wenn Sie meinen, ich sei Ihnen nicht gut zu Willen gewesen.“
Mit einer beschwichtigend Geste erwiderte Mikahl: „Sei unbesorgt, Jane. Ich werde nichts tun, was du nicht möchtest, und mich auch nicht bei Mrs. Bancroft beklagen. Als Gegenleistung will ich, daß du mir berichtest, was in diesem Haus geschieht.“
Jenny nickte hastig. „Aber Sie dürfen Mrs. Bancroft nicht erzählen, was ich Ihnen gesagt habe.“
„Einverstanden. Mußt du häufig die Rolle der Jungfrau spielen?“ Mikahl verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich bequem gegen den Bettpfosten. Er wollte so harmlos wie möglich wirken, damit Jane Miller sich nicht bedroht fühlte und ihm rückhaltloser Auskunft gab.
„Ja, in jeder Woche mindestens zweimal“, antwortete sie freimütig. „Ich nehme an, Sie wissen, daß man ein blutgetränktes Schwämmchen und verdampfenden Weinessig nimmt, um die Illusion der Unberührtheit vorzutäuschen. Die meisten Männer merken
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